Septembermorgen
Verfasst: Sa 20 Sep, 2008 12:53
Septembermorgen
Man sieht auf den ersten Blick, dass es schon lange regnet, selbst, wenn man es noch nicht weiß. Es sind die tiefen Pfützen, die hängenden und tropfenden Pflanzen, die verregneten und fleckigen Blüten und die scheinbar betonharte Wolkendecke, die es einem deutlich sagen. Der erdige Geruch von Wasser auf trockenem Boden ist schon lange abgeklungen. Ich kuschele mich tiefer in meinen nassen Mantel und sinke im S-Bahnsitz zurück. Es ist halb acht. Die S-Bahn hätte vor gut fünf Minuten fahren sollen, aber „wegen einer Signalstörung verzögert sich unsere Abfahrt noch um wenige Minuten“, wie die süßliche Computerstimme verkündete.
Im Waggon ist es heiß und stickig. Es riecht nach nasser Kleidung, Schweiß und kalter Asche. Ich starre auf die blauen Vierecke auf dem Sitz mir gegenüber. Mein Blick wird von einem Körper verdeckt, der sich auf den Sitz fallen lässt. Jetzt sehe ich eine schmierige Lederjacke. Leute drängen sich durch die immer noch offen stehende Tür. Ich muss mich überwinden, nicht gleich wieder auszusteigen. Lieber zurück nach Hause laufen und vollends nass werden, als in diesem überheizten verspäteten Zug in die Schule zu fahren. Aber wie soll ich je erklären, warum ich am ersten Schultag gar nicht erst gekommen bin?
Wie der Geist einer Erinnerung steigt vor meinem inneren Auge mein erster Tag am Gymnasium auf. Nicht so, als hätte ich es selbst erlebt, sondern mehr wie die Handlung in einem fast vergessenen Buch. Mein Vater hat mich mit dem Auto in die Schule gefahren. Die ganze Fahrt über habe ich vor Aufregung nicht still sitzen können. Der erste Blick auf die Schule, seit ich sie mir ausgesucht hatte, das Gefühl dazu zu gehören, die Neugierde, was mich erwarten würde. Aber am deutlichsten erinnere ich mich an die Vorfreude. Ich konnte es kaum erwarten zu lernen, meinen neuen Alltag zu finden. Was haben wir damals in der ersten Deutschstunde besprochen? Etwas von Mörike. Aus den Tiefen der Vergangenheit erstehen die Zeilen des Gedichtes, das ich damals in meiner Kinderschrift in mein Heft geschmiert hatte, wieder auf. Im Nebel ruhet noch die Welt, Noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt…Weiter weiß ich es nicht mehr. Jahrelang konnte ich es ganz auswendig und habe es mir an jedem Septembermorgen selbst aufgesagt. Leise murmele ich die Zeilen vor mich hin, aber der letzte Teil fehlt einfach. Ich lehne den Kopf gegen die zerkratzte und beschmierte Scheibe und starre hinaus auf die durch den Regen flimmernden Straßen und Häuser. In meinen Septembermorgen. Kein Schleier, der fallen kann. Keine schlafenden Wälder und Wiesen. Nur ein neues Schuljahr vor mir. Ein Schuljahr, in dem Septembermorgen nicht mehr mein Lieblingsgedicht sein wird. Ich mag Hesse lieber. Haben wir nicht auch von ihm mal ein Gedicht über September besprochen? Wie war es gleich noch mal?
Auch, wenn ich es nie auswendig gelernt habe, ist doch die erste Strophe noch irgendwo in meiner Erinnerung. Der Garten trauert, Kühl sinkt in die Blumen der Regen, Der Sommer schauert, Still seinem Ende entgegen. Na, das passt doch schon besser. War da nicht noch mehr über den sterbenden Sommer?
Endlich fährt die S-Bahn los. Ganze zehn Minuten zu spät. Unschlagbar, ich komme am ersten Tag nach den Sommerferien zu spät. Na ja, wenigstens werde ich nicht die Einzige sein. Die meisten meiner Freunde fahren mit dem gleichen Zug. Nur heute habe ich mich nicht in den gleichen Zugteil wie sie gesetzt. Ich hasse das Nach-Sommerferien-Geschnatter. Alle fragen, was die anderen gemacht haben und wollen im Grund nur ihre eigenen Erzählungen hören. Ich kann im Moment weder meine Stimme noch eine andere ertragen. Was gibt es schon zu sagen? Was will ich schon hören?
Heute noch werde ich wieder das schäbige Schulhaus betreten und jeder Sommerzauber wird gebrochen sein. Der Sommer schauert, Still seinem Ende entgegen. Meine Versuche, die Magie der Freiheit aufrecht zu erhalten, werden eine Weile anhalten. Ein paar Wochen werde ich jeden Tag joggen, hundert Seiten lesen und einmal die Woche fotografieren gehen. Dann wird die Kamera in ihrer Ecke verstauben, die Romane werden durch Mathebücher und Grammatiken ersetzt und die Energie zum Joggen wird mir fehlen. Langsam wird die Schule ihre erstickende Decke über mich ausbreiten. Und spätestens zum Halbjahr sind meine Nägel wieder abgefressen und ich wache nachts auf und löse Gleichungssysteme. Und wozu das Ganze? Im letzten Jahr haben sie auf dem Zeugnis meinen Namen falsch geschrieben. Als ich zur Klassenlehrerin gegangen bin, hat sie mir gesagt: „Es ist doch nur ein H.“ Natürlich ist es nur ein H. Aber darum geht es doch gar nicht. Es geht darum… Ach egal.
Es sind nur noch zwei Jahre. Nur noch einmal werde ich an einem Septembermorgen in der S-Bahn sitzen. Und dann? Was wird sich dann ändern? Die Gleichungssysteme, die mich nicht schlafen lassen, werden komplizierter werden. Aber sonst? Nichts.
Meine Haltestelle. Ich stehe auf, ergreife meine alte Tasche und steige aus. Das Gewicht der ausgebeulten, orangefarbenen Mappe ist vertraut. Ich glaube, ohne sie habe ich die Schule nie betreten. Sofort schlägt mir der Regen ins Gesicht. Langsam gehe ich den von Schülern überschwemmten Bahnhof entlang. Das Pflaster ist schlecht und glitschig. Von allen Seiten werde ich angestoßen. Eine Wolke blumiges Parfüm nimmt mir für ein paar Sekunden den Atem. Mehrere Leute grüßen mich, ihre Gesichter verschwommen in dem strömenden Regen, ich nicke knapp zurück. Langsam werde ich die Straße entlang auf die Schule zu geschoben. Ich lasse mich einfach treiben. Wir haben ohnehin alle das gleiche Ziel: jenes große Tier, das sich erwartungsvoll vor uns duckt. Der Name in großen roten Buchstaben, wie eine blutige Wunde über dem aufgerissenen Maul. Ich werde die Treppe hinauf gedrängt. Schon, bevor ich die letzte Stufe erreicht habe, schlägt mir der Geruch in die Nase. Jener unverwechselbare Geruch nach Teppichreiniger, Putzmittel und Menschen. Mit einem Mal fallen mir die letzten Zeilen wieder ein. Bald siehst du wenn der Schleier fällt, Den blauen Himmel unverstellt, Herbstkräftig die gedämpfte Welt in warmem Golde fließen. Die Leuchtstoffröhren und Heizungen vertreiben im Inneren des Schulhauses die dunkle Kälte des Septembermorgens. Das Licht lässt den schäbigen braunen Teppichboden beinahe golden erscheinen. Ich lache über meinen eigenen Gedanken, aber meine Vorfreude ist kaum anders als vor sieben Jahren. Ein Stück vor mir sehe ich meine beste Freundin, die mir aufgeregt winkt. Ich lächele zurück und merke, dass ich gespannt bin, was sie mir zu erzählen hat.
Man sieht auf den ersten Blick, dass es schon lange regnet, selbst, wenn man es noch nicht weiß. Es sind die tiefen Pfützen, die hängenden und tropfenden Pflanzen, die verregneten und fleckigen Blüten und die scheinbar betonharte Wolkendecke, die es einem deutlich sagen. Der erdige Geruch von Wasser auf trockenem Boden ist schon lange abgeklungen. Ich kuschele mich tiefer in meinen nassen Mantel und sinke im S-Bahnsitz zurück. Es ist halb acht. Die S-Bahn hätte vor gut fünf Minuten fahren sollen, aber „wegen einer Signalstörung verzögert sich unsere Abfahrt noch um wenige Minuten“, wie die süßliche Computerstimme verkündete.
Im Waggon ist es heiß und stickig. Es riecht nach nasser Kleidung, Schweiß und kalter Asche. Ich starre auf die blauen Vierecke auf dem Sitz mir gegenüber. Mein Blick wird von einem Körper verdeckt, der sich auf den Sitz fallen lässt. Jetzt sehe ich eine schmierige Lederjacke. Leute drängen sich durch die immer noch offen stehende Tür. Ich muss mich überwinden, nicht gleich wieder auszusteigen. Lieber zurück nach Hause laufen und vollends nass werden, als in diesem überheizten verspäteten Zug in die Schule zu fahren. Aber wie soll ich je erklären, warum ich am ersten Schultag gar nicht erst gekommen bin?
Wie der Geist einer Erinnerung steigt vor meinem inneren Auge mein erster Tag am Gymnasium auf. Nicht so, als hätte ich es selbst erlebt, sondern mehr wie die Handlung in einem fast vergessenen Buch. Mein Vater hat mich mit dem Auto in die Schule gefahren. Die ganze Fahrt über habe ich vor Aufregung nicht still sitzen können. Der erste Blick auf die Schule, seit ich sie mir ausgesucht hatte, das Gefühl dazu zu gehören, die Neugierde, was mich erwarten würde. Aber am deutlichsten erinnere ich mich an die Vorfreude. Ich konnte es kaum erwarten zu lernen, meinen neuen Alltag zu finden. Was haben wir damals in der ersten Deutschstunde besprochen? Etwas von Mörike. Aus den Tiefen der Vergangenheit erstehen die Zeilen des Gedichtes, das ich damals in meiner Kinderschrift in mein Heft geschmiert hatte, wieder auf. Im Nebel ruhet noch die Welt, Noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt…Weiter weiß ich es nicht mehr. Jahrelang konnte ich es ganz auswendig und habe es mir an jedem Septembermorgen selbst aufgesagt. Leise murmele ich die Zeilen vor mich hin, aber der letzte Teil fehlt einfach. Ich lehne den Kopf gegen die zerkratzte und beschmierte Scheibe und starre hinaus auf die durch den Regen flimmernden Straßen und Häuser. In meinen Septembermorgen. Kein Schleier, der fallen kann. Keine schlafenden Wälder und Wiesen. Nur ein neues Schuljahr vor mir. Ein Schuljahr, in dem Septembermorgen nicht mehr mein Lieblingsgedicht sein wird. Ich mag Hesse lieber. Haben wir nicht auch von ihm mal ein Gedicht über September besprochen? Wie war es gleich noch mal?
Auch, wenn ich es nie auswendig gelernt habe, ist doch die erste Strophe noch irgendwo in meiner Erinnerung. Der Garten trauert, Kühl sinkt in die Blumen der Regen, Der Sommer schauert, Still seinem Ende entgegen. Na, das passt doch schon besser. War da nicht noch mehr über den sterbenden Sommer?
Endlich fährt die S-Bahn los. Ganze zehn Minuten zu spät. Unschlagbar, ich komme am ersten Tag nach den Sommerferien zu spät. Na ja, wenigstens werde ich nicht die Einzige sein. Die meisten meiner Freunde fahren mit dem gleichen Zug. Nur heute habe ich mich nicht in den gleichen Zugteil wie sie gesetzt. Ich hasse das Nach-Sommerferien-Geschnatter. Alle fragen, was die anderen gemacht haben und wollen im Grund nur ihre eigenen Erzählungen hören. Ich kann im Moment weder meine Stimme noch eine andere ertragen. Was gibt es schon zu sagen? Was will ich schon hören?
Heute noch werde ich wieder das schäbige Schulhaus betreten und jeder Sommerzauber wird gebrochen sein. Der Sommer schauert, Still seinem Ende entgegen. Meine Versuche, die Magie der Freiheit aufrecht zu erhalten, werden eine Weile anhalten. Ein paar Wochen werde ich jeden Tag joggen, hundert Seiten lesen und einmal die Woche fotografieren gehen. Dann wird die Kamera in ihrer Ecke verstauben, die Romane werden durch Mathebücher und Grammatiken ersetzt und die Energie zum Joggen wird mir fehlen. Langsam wird die Schule ihre erstickende Decke über mich ausbreiten. Und spätestens zum Halbjahr sind meine Nägel wieder abgefressen und ich wache nachts auf und löse Gleichungssysteme. Und wozu das Ganze? Im letzten Jahr haben sie auf dem Zeugnis meinen Namen falsch geschrieben. Als ich zur Klassenlehrerin gegangen bin, hat sie mir gesagt: „Es ist doch nur ein H.“ Natürlich ist es nur ein H. Aber darum geht es doch gar nicht. Es geht darum… Ach egal.
Es sind nur noch zwei Jahre. Nur noch einmal werde ich an einem Septembermorgen in der S-Bahn sitzen. Und dann? Was wird sich dann ändern? Die Gleichungssysteme, die mich nicht schlafen lassen, werden komplizierter werden. Aber sonst? Nichts.
Meine Haltestelle. Ich stehe auf, ergreife meine alte Tasche und steige aus. Das Gewicht der ausgebeulten, orangefarbenen Mappe ist vertraut. Ich glaube, ohne sie habe ich die Schule nie betreten. Sofort schlägt mir der Regen ins Gesicht. Langsam gehe ich den von Schülern überschwemmten Bahnhof entlang. Das Pflaster ist schlecht und glitschig. Von allen Seiten werde ich angestoßen. Eine Wolke blumiges Parfüm nimmt mir für ein paar Sekunden den Atem. Mehrere Leute grüßen mich, ihre Gesichter verschwommen in dem strömenden Regen, ich nicke knapp zurück. Langsam werde ich die Straße entlang auf die Schule zu geschoben. Ich lasse mich einfach treiben. Wir haben ohnehin alle das gleiche Ziel: jenes große Tier, das sich erwartungsvoll vor uns duckt. Der Name in großen roten Buchstaben, wie eine blutige Wunde über dem aufgerissenen Maul. Ich werde die Treppe hinauf gedrängt. Schon, bevor ich die letzte Stufe erreicht habe, schlägt mir der Geruch in die Nase. Jener unverwechselbare Geruch nach Teppichreiniger, Putzmittel und Menschen. Mit einem Mal fallen mir die letzten Zeilen wieder ein. Bald siehst du wenn der Schleier fällt, Den blauen Himmel unverstellt, Herbstkräftig die gedämpfte Welt in warmem Golde fließen. Die Leuchtstoffröhren und Heizungen vertreiben im Inneren des Schulhauses die dunkle Kälte des Septembermorgens. Das Licht lässt den schäbigen braunen Teppichboden beinahe golden erscheinen. Ich lache über meinen eigenen Gedanken, aber meine Vorfreude ist kaum anders als vor sieben Jahren. Ein Stück vor mir sehe ich meine beste Freundin, die mir aufgeregt winkt. Ich lächele zurück und merke, dass ich gespannt bin, was sie mir zu erzählen hat.