Geschichten zum Thema Alltag

Fliegen

Beitragvon Pio » Mi 29 Apr, 2009 07:02


Fliegen...

Fliegen müsste man können, wegfliegen, wohin auch immer, frei sein, wovon und für was auch immer. Dieser Gedanke hat mich schon immer fasziniert.
Aus dem alltäglichen Trott rauskommen, etwas anderes machen, nicht alles so wichtig nehmen.

Es ist Mittag, mein Unterricht ist zu Ende. Kein schlechter Tag heute.
Ich gehe die Treppe aus dem zweiten Stock hinunter. Gedränge, Schüler überholen mich. Frau Willauer will wissen, ob ich sie morgen in der ersten Stunde vertreten kann, sie müsse zum Arzt.
Ich gehe etwas langsamer, bin müde, habe Schmerzen in den Beinen. Nachwirkungen der Grippe.
In den Ferien waren meine Frau und ich in unserem Haus am Meer, lange Wanderungen, gutes Essen, Wein, Diskussionen. In der letzten Woche hatte mich dann eine Grippe erwischt, Hals- und Kopfschmerzen, spürte meine Beine.
Joggen konnte ich auch nicht mehr.
Ich steige in mein Auto, mache die Fenster auf. Es ist heiß, obwohl der Sommer zu Ende geht.
Gut, dass wir damals umgezogen sind, zur Schule brauche ich nur zehn Minuten, meine Frau Ella zu ihrer Arbeitsstelle etwas länger.
Zuhause esse ich einen Apfel, habe kaum Hunger. Ich bin müde und lege mich dann ins Bett Einen Mittagsschlaf brauche ich.

Ich komme von der Arbeit, stressiger Tag heute. Alle glauben, dass wir vom Sozialamt ihre Probleme lösen können.
Die Küche hat er nicht aufgeräumt, die Wäsche ist immer noch in der Maschine. Er wollte sie doch zum Trocknen aufhängen, liegt auf dem Sofa und schläft, obwohl es schon 17.00 Uhr ist.
In letzter Zeit ist er immer müde, wahrscheinlich Nachwirkungen seiner Grippe.
Ich schaue ihn an, er ist erst fünfzig, sieht jetzt aber älter aus, abgespannt, müde, irgendwie resigniert.
Ich mag seine Art, er ist intelligent, feinfühlig, hat Humor. Ich liebe ihn immer noch, obwohl wir jetzt über zwanzig Jahre verheiratet sind.
Ich wecke ihn mit einem Kuss auf, dann arbeiten wir zusammen im Haus.
Wir essen zu Abend, erzählen von unserem Arbeitstag, immer die gleichen Probleme.
Beim Fernsehen trinken wir zusammen Wein, ihm fällt sein Glas aus der Hand. Wir gehen früh ins Bett, ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.

Nach der zweiten Stunde gehe ich zum Arzt. Die Schmerzen in meinen Beinen sind stärker geworden, konnte nachts kaum schlafen. Ich wäre fast w hingefallen, als ich in der Schule die Treppe runterging. Musste mich am Geländer festhalten.
Dr. Lauer untersucht mich gründlich, erkundigt sich nach Beschwerden, schaut mich merkwürdig an. Er schreibt mich eine Woche krank und überweist mich ins Krankenhaus. Da müsste eine Reihe von Untersuchungen stattfinden, sagt er. In einer Woche sollte ich wiederkommen, dann hätte er genaue Ergebnisse.
Auf dem Weg zum Krankenhaus denke ich, dass ich besser nicht zum Arzt gegangen wäre, jahrelang war ich bei keinem.
Der ganze Vormittag vergeht mit allen möglichen neurologischen Untersuchungen, Rückenmarkflüssigkeit wird entnommen. Die probieren wohl alles an mir aus, bin ja Privatpatient, denke ich.


Er liegt wieder auf dem Sofa, stiert vor sich hin. Wir bereiten zusammen das Abendessen vor, kleinste körperliche Anstrengungen scheinen ihm Mühe zu bereiten. Er sagt, dass er morgen erst zur dritten Stunde Unterricht habe.

Meiner Frau habe ich nichts von meinen Arztbesuchen erzählt, auch nicht, dass ich krank geschrieben wurde.
Sie geht früh aus dem Haus.
Mir schmerzen fast alle Glieder, auch der Rücken. Ich werde trotzdem heute Morgen joggen gehen, unser Haus liegt direkt am Wald.
Vielleicht kann mir das helfen. Ich erinnere mich, dass Joggen mir bei allen möglichen Problemen immer geholfen hat. Glücksgefühle werden dabei freigesetzt, die kann ich jetzt dringend gebrauchen.
Ich ziehe mein Sportzeug an und verlasse das Haus. Am Waldrand fange ichan zu rennen und falle hin.
Mühsam rappele ich mich auf, humple zum Haus zurück.
Als ich mir die Schuhe ausziehe, merke ich, dass es in meinen Händen kribbelt, dass ich kaum etwas fühle.
Gehen kann ich nur mühsam, meine Beine knicken weg.
Im Keller haben wird ein Paar Krücken, Ella hatte sich im letzten Winter beim Skifahren ein Bein gebrochen. Ich taste mich die Kellertreppe hinunter und hole sie. Ella werde ich erzählen, dass ich mir beim Joggen den Fuß verstaucht habe.

Als ich nach Hause komme, liegt er im Bett, den Fuß hat er sich beim Joggen verstaucht, wie er sagt. Er sieht nicht gut aus, scheint Fieber zu haben. Er redet wenig und ist heiser.
Später kommt sein Freund und Kollege Theo vorbei, fragt, wie es ihm gehe, die Vertretung in seiner Klasse sei geregelt.
Wir sitzen zusammen am Tisch, essen und trinken Wein. Rainer trinkt wenig, isst wenig, redet wenig. Die Krücken stehen neben ihm.
Ich fange an, mir Gedanken zu machen, wusste nicht, dass er krank geschrieben wurde.

Seit Tagen liege ich nun im Bett, habe Gefühlstörungen in den Beinen, auch in den Armen, Schmerzen im Rücken und in allen Gliedern. Ich versuche meiner Frau zu erklären, dass das alles Nachwirkungen der Grippe seien. Mein Fuß sei immer noch verstaucht, vielleicht sei es auch eine Muskelzerrung, deshalb hätte ich Schwierigkeiten beim Gehen.
Bei meinem letzten Arztbesuch erklärte mir Dr. Lauer, dass ich wahrscheinlich eine sehr seltene Krankheit hätte. Es sei eine schwere Lähmungserkrankung des peripheren Nervensystems. Ich müsse ins Krankenhaus, der Aufenthalt auf einer neurologischen Intensivstation sei notwendig, da auch Störungen der Atem- und Herzkreislauffunktion zu erwarten seien. Ständige Kontrollen der Kreislaufwerte sowie Verhinderung von Thrombosen und Lungenentzündungen seien erforderlich...

Ich hörte nicht mehr weiter zu, stand auf, nahm meine Krücken und verließ die Praxis. Mit einem Taxi fuhr ich nach Hause.


Wenn ich Rainer ansehe, werde ich mutlos. Mich überfällt Verzweiflung und Traurigkeit. Ich weiß inzwischen von seiner Krankheit, habe mit Dr. Lauer lange gesprochen, weiß, was auf ihn zukommt und auch auf mich.
Bisher hatte ich nur von solchen Situationen gelesen. Ich konnte mitfühlen, aber habe sie nicht verstanden.
Alles hat sich bei uns geändert, Rainer arbeitet nicht mehr und ich auch nicht. Ich will bei ihm sein, auch wenn ich kaum helfen kann, keine Minute verlieren von der Zeit, die uns noch gemeinsam bleibt.

Ich liege da und denke, denke an vieles, was ich getan habe, was ich hätte tun sollen, was ich noch alles tun wollte.
Ich kann kaum noch laufen, eine Gesichtshälfte ist gelähmt. Ich kann nicht mehr schreiben und kaum noch lesen, Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.
Besuch kommt kaum noch. Was sollten Menschen auch mit einem Mann wie mich anfangen, der nur dasitzt, trübsinnig und kaum noch verständlich reden kann.
Ella versucht Zuversicht vorzutäuschen und zeigt sich fröhlich. Alles wird wieder gut werden, sagt sie immer wieder. Aber ich sehe, welche Mühe sie das kostet. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind.

Heute ging es Rainer etwas besser, er konnte reden, ich konnte ihn verstehen.

„Erinnerst du dich noch, als wir zusammen in Portugal am Meer waren?“, fragte er mich.
„Ja, es war Sommer, eine Bullenhitze.“
„Erinnerst du dich auch an die alte Frau? Sie saß da am Strand und schaute auf das Meer.“
„Ja, sie war schon sehr alt und allein.“
„Sie schaute aufs Wasser, als wenn sie etwas finden wollte, was sie verloren hatte oder etwas finden wollte, was sie bisher nicht gefunden hatte. Ich glaube, sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Ich möchte auch noch einmal raus, am Meer sein. Vögel fliegen sehen, aufs Wasser schauen und träumen.“

Ich habe einen Rollstuhl gekauft, kann damit mit Rainer spazieren gehen. Er muss dann nicht immer im Bett liegen, kommt mal aus dem Haus, kann endlich einmal wieder etwas anderes sehen.

Spazieren werde ich jetzt gefahren, sitze in meinem Rollstuhl wie ein Greis. Wir setzen uns manchmal in ein Café und die Leute starren mich an, sehen meine unkontrollierten Bewegungen, Zuckungen , meine Hände, wie sie zittern.
Ich kann mich kaum noch auf etwas konzentrieren, kaum noch atmen. Ich verliere Erinnerungen und manchmal das Bewusstsein.
Gefangen bin ich, gefangen in meinem Körper, allein. Ich fühle fast nur noch wie ein Tier. Ich habe Angst.

Es geht ihm schlechter, Schmerzen. Er kann kaum noch schlucken, kaum noch reden. Es gibt Augenblicke, in denen er mich nicht mehr kennt.
Er kann nur noch mühsam atmen, irgendwann wird er ersticken.

Es ist kalt, früh am Morgen, wir gehen aus unserem Ferienhaus am Meer, ich schiebe ihn in seinem Rollstuhl.
Vögel fliegen über uns, aber er kann seinen Kopf nicht heben. Er kann nicht nach oben schauen, vielleicht hört er sie.

Ich höre Vögel, über mir fliegen sie, ich kann sie nicht sehen. Ich schaue zum Meer hinunter. Jetzt sehe ich sie, sie schweben zum Meer hinunter, mühelos. Sie sind frei.
Fliegen müsste ich können, von allem davonfliegen. Alles von weit oben sehen, klein und unscheinbar, unwichtig. Dann wäre ich frei.
Ich schaue sie an, sie kniet vor mir und schaut mich an.
Ich will ihr sagen, dass es eine schöne Zeit mit ihr war, dass ich sie immer noch so liebe wie am ersten Tag. Vielleicht noch viel mehr, dass sie die vielen guten Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit behalten soll, aber meine Lippen bewegen sich nicht, mein Mund gehorcht nicht mehr.
Ihre Augen sehen mich machtlos an, sehen wie ich in Einsamkeit versinke.

Ich schaue ihn an, knie vor ihm, vor seinem Rollstuhl. Ich umfasse seine Beine, sehe wie er mühsam atmet. Er schaut mich verzweifelt an, will mir etwas sagen.
Ich stehe auf, streichle sein Gesicht, schiebe ihn an der Rand des Felsens und stoße den Rollstuhl vorwärts.

Ich kann fliegen...
Pio
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Re: Fliegen

Beitragvon Garfield » Sa 02 Mai, 2009 17:00


Moin Pio

Erstmal willkommen im Lifo :)
Und nun zum Text:
Du hast ein Thema, das locker auch eine lange Geschichte, einen Roman füllen würde, verknappst es hier jedoch auf das Äußerste.
Das ist leider mit einigen Problemen verbunden. Ich kann kaum mit den Figuren mitfühlen, weil einfach alles viel zu schnell geht. Zudem sind sie auch ziemlich beliebig, austauschbar. Du müsstest sie noch stärker und eindeutiger charakterisieren.
Wolltest du eine Kurzgeschichte schreiben, hättest du nur einen Teil davon nutzen sollen, z.B. den Moment wo er ihr von der krankheit erzählt oder sowas.
Da du aber diesen ganzen großen Zeitraum beschreibst, musst du einfach ausführlicher werden. Du hast auch viele Interessante Dinge einfach weggelassen.

Dein Sprache ist auch sehr verknappt, zu sehr für meinen Geschmack. Es reiht sich Teilsatz an Teilsatz, mitunter haben die nicht viel miteinander zu tun. Auch wirkt deine Geschichte dadurch sehr gehetzt, was ja durch die große Zeitspanne die sie beschreibt noch gesteigert wird.
Die Enter-Taste solltest du auch weniger nutzen, das zerreisst den text zu sehr und liest sich nicht schön.

Noch zum Inhalt:
Deine Geschichte ist jetzt nicht unbedingt originell.
Ein Mann wird todkrank und bereut nun, dass er in seinem Leben manches verpasst hat und hadert mit der Krankheit.
Das macht ja nix, aber müsste sie dafür erzählerisch überzeugen oder besondere Aspekte des bekannten Themas beleuchten. Das ist bei einem solch komplexen Thema sicherlich möglich.
Das Ende war für mich sehr überraschend. Allerdings werde ich nicht ganz schlau draus. Sie schubst ihn da runter und ich frage mich, warum?
Er hat nix dergleichen zu ihr gesagt und sie sagte ja, dass sie ihn immer noch liebt.
Natürlich habe ich Ideen, warum sie das tun könnte, vllt kannte sie seine Idee mit der Tablette und will ihm helfen. Aber ich würde mir schon wünschen, da du ja auch sie immer wieder zu Wort kommen lässt, dass du auch ihre Motive schilderst.
Abgesehen davon, ist jemanden von der Klippe stürzen juristisch gesehen Mord, d. h. sie hätte mit Konsequenzen zu rechnen. Auch muss ihr das doch schwer fallen, da sie ihn liebt.
Aber das alles lässt du unerwähnt.
Wie gesagt, alles viel zu knapp, hier zum Beispiel halte ich es für notwendig, dass das Probelm mit der Sterbehilfe diskutiert wird, indem man ihre Gefühle und Gedankengänge beschreibt.

Ansonsten: Drei punkte am Ende genügen völlig ;)

Alles in allem würde ich dir raten, das ganze eine Nummer kleiner anzugehen. Solche ein komplexes Thema ist halt auch ziemlich schwer.

Ich hoffe du kannst mit meiner Kritik was anfangen, auch wenn ich sie etwas allgemeiner gehalten hab, aber du kannst natürlich jederzeit nachfragen oder mit mir diskutieren. :)

Gruß garf
Kurz, er bewies eine Geduld, vor der die hölzern-gleichmütige Geduld des Deutschen, die ja auf dessen langsamer, träger Blutzirkulation beruht, einfach gar nichts ist.
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Re: Fliegen

Beitragvon Pio » So 03 Mai, 2009 07:58


Guten Morgen Garfield,

danke für das "Willkommen".

Manches sehe ich inzwischen auch so wie du. Für eine Kurzgeschichte ist das Thema so wohl weniger geeignet, für eine Erzählung nicht ausführlich genug geschrieben.

Werde bei einer Überarbeitung deine Anmerkungen teilweise berücksichtigen.

Danke für deinen Kommentar. Er ist konstruktiv.

Gruß

Pio
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