Geschichten zum Thema Alltag

Das Gespräch

Beitragvon Niko1230 » Do 27 Aug, 2009 14:44


Das Gespräch

Fast war sie schon an ihm vorbei gegangen. Da blieb sie plötzlich stehen, ich sah, wie sie kurz überlegte und dann zwei Schritte rückwärts ging. Ihre Tüten stellte sie auf den Boden und strich sich ein wenig verlegen durch ihr sprödes Haar „ Na? Was stehst du hier herum?“ Sie sah ihn musternd an, diesen Kerl. Er war kaum größer als sie, der Rücken gekrümmt. In der Hand hielt er eine Kugel. Er schwieg. „Bist wohl auch alleine, oder?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie fort: „Geschieht uns recht! Wir hätten uns auf das Wichtige im Leben konzentrieren sollen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen.“ Durchdringend sah sie ihm in die Augen und legte dabei ihre Hand auf seine Schulter. Der Mann reagierte nicht. „So…- Du hälst dich wohl für was Besseres, hm? Hast es nicht nötig, mit mir zu reden, oder was?!“ Ihre Stimme wurde lauter. Sie gestikulierte wild und ging sichtlich erregt vor ihm auf und ab: „Jetzt hör mir mal gut zu, du arroganter Fatzke! Ich weiß genau, dass du froh bist, dass dich mal jemand anspricht. Auch wenn du es nicht zeigen kannst. Sonst redet doch niemand mit dir! Alle gehen an dir achtlos vorbei. Grinsen dich vielleicht mal verlegen an. Ich kenne das Gefühl, mir brauchst du nichts vormachen!“ Der Mann schwieg.
Mittlerweile waren Passanten stehen geblieben und verfolgten – aus sicherer Distanz - das Gespräch. „Haben sie sich nicht über deinen Buckel lustig gemacht?“ Sie sah ihm herausfordernd in die Augen, den Kopf nach vorne gereckt und tippte auf ihre Brust: „ Niemand macht sich die Mühe, hier rein zu sehen, mein Lieber! Glaubst du nicht auch, dass ich mehr bin, als nur die zerlumpte alte Krähe, die du hier siehst!? Was weißt denn du schon über mein Leben! Nichts! Niemand weiß das! Sie werfen mir Geld zu, damit sie nicht drüber nachdenken müssen.“ Sie stemmte ihre Hände zu Fäusten geballt in die Seiten und fing an zu lachen. Auf eine bittere kalte Art, die mich erschauern ließ:“ Ha! Dir werfen sie ja noch nicht mal Geld vor die Füße!“
Sie überlegte kurz, lächelte ihn, der immer noch schwieg, mit einem Augenzwinkern an und griff nach einer der vielen Tüten, die sie mit sich schleppte. Daraus zog sie eine Wolldecke, die wohl auch schon bessere Zeiten gesehen hatte und legte sie dem Mann über die Schulter. „Im Moment ist es ja noch warm. Aber es kommt bestimmt Schnee in den nächsten Tagen.“ Sie ging einen Schritt zurück und musterte ihn. „Nein…du brauchst jetzt nichts sagen,“ winkte sie ab, „ist schon ok so.“
Sie ging noch mal auf ihn zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Nächste Woche sehe ich noch mal nach dir. Jetzt muss ich erstmal zu Gauss und Weber.“ Sie zwinkerte ihm noch einmal kurz zu nahm ihre Habseligkeiten in die Hand und machte sich vergnügt auf den Weg.
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Re: Das Gespräch

Beitragvon cube » Do 24 Sep, 2009 19:42


hi Niko, jetzt hab ich die story zweimal gelesen, aber auf den clou, wer der typ ist, komme ich nicht. ich tippe auf jemand unbelebten, auf einen schneemann oder pappkamerad. also falls du auf ne pointe hinaus wolltest, solltestus vielleicht noch mal verdeutlichen. mir ists lieber ohne, der selbstentblößende monolog der frau reicht mir völlig in dieser geschichte, den finde ich stark und glaubwürdig. ein bisschen rätsele ich auch, warum auf einmal ein ich-erzähler mitten im text auftaucht, den brauchte es in meiner rezeption nicht.
grüße
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Re: Das Gespräch

Beitragvon Drehrassel » Do 24 Sep, 2009 20:40


[quote="Niko1230":vvkhfuw5]

Da blieb sie plötzlich stehen, ich sah, wie sie kurz überlegte und...[/quote]

dieser ich-erzähler, cube, taucht, wie du siehst, schon ein weiteres, ein erstes, mal gleich im zweiten satz der geschichte auf. das tut, was deine überlegungen zur konzeption des textes anbelangt, das weiß ich, nicht viel zur sache. wollte ich dennoch der korrektheit halber anmerken. / ich persönlich finde diese konstellation: die frau/der rätselhafte stumme/die passanten und der ich-erzähler = nett. auch gerade in diesem zusammenhang, dass eben der erzähler nur ein zwei stellen im text auftaucht, und zwar an stellen, welche willkürlich erscheinen. das gibt dem ganzen ein surplus an rätselhaftigkeit. (wenngleich man das auch mal näher untersuchen könnte, welche funktion das auftauchen des erzählers in den erwähnten stellen haben könnte.) / was ich also sagen will, cube, ist, dass ich deinen einwand zu diesem thema plausibel finde, aber deine einschätzung diesbezüglich nicht teile.

[quote="cube":vvkhfuw5]falls du auf ne pointe hinaus wolltest, solltest dus vielleicht noch mal verdeutlichen. mir ists lieber ohne[/quote]

das wiederum sehe ich ganz genauso. meiner meinung nach ginge dem text aller reiz verloren, arbeitete niko eine "pointe" heraus, wie du es nennst, cube, wer oder was genau "dieser kerl" (wie es im text selbst heißt) sein könnte. auch der "selbstentblößende monolog" der frau entfaltete dann überhaupt keine wirkung mehr; bzw. ja, eine wirkung selbstverständlich schon, aber diese würde mit einem mal platt, banal und zielte nur noch auf reinen vorführeffekt, der für mein verständnis von spannung eines plots und literarizität überhaupt, nur noch langeweile zu generieren imstande wäre.

so aber, empfinde ich nikos kurzgeschichte ganz gut. bis auf einige ausdrücke, welche ich sprachlich nicht sehr gelungen finde ("du eitler fatze", kann man sich natürlich drüber streiten. es mag menschen geben, die sich in einer situation so ausdrücken würden; ich finds aber eher gekünstelt und ein bisschen lächerlich). die idee ist aber ganz gut, wie gesagt. die geschichte ist relativ konzis und mit wenig unnötig erscheinendem füllstoff versehen. (gut, streichen kann man immer, und auch hinsichtlich dieser problematik sollte man den text noch einmal genauer untersuchen). und vor allem, nochmal, dieses rätselhafte in- und nebeneinander aus frau, "kerl", namen- und gesichtslosen passenten und erzähler... ja... mag ich. -

gruß,
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Re: Das Gespräch

Beitragvon Niko1230 » Fr 25 Sep, 2009 18:18


hallo ihr!
ja.......gauss und weber. nahmhafte persönlichkeiten, die (hier) in göttingen lebten und arbeiteten. und das bucklichte männlein mit der kugel in der hand ist kein geringerer als lichtenberg. mathematiker, physiker und - nicht zuletzt! - ein schriftsteller. er hat besonders viele aphorismen geschrieben.
die geschichte beruht auf einer tatsächlichen begebenheit. nur halt etwas ausgeschmückt. die anmerkungen werd ich bedenken und überarbeiten!
danke euch allen!!!

lieben gruß : Niko
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Re: Das Gespräch

Beitragvon cube » Fr 25 Sep, 2009 20:16


hi drehrassel, danke für den hinweis. erst vom zweimal lesen schreiben und dann so was übersehen. args.
hi Struppi, ich bin nicht so der große rätselrater, im gegensatz zu dir vielleicht, die du schon was für derlei übrig zu haben scheinst. ich erinnere mich an das gleisensummen, in dem text verstecktest du doch auch was. und ich fand es! nur wars meilenweit daneben. :D
herzliche grüße
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Re: Das Gespräch

Beitragvon Drehrassel » Sa 26 Sep, 2009 16:59


[size=200:35pm7f27]lichti!!!![/size]


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damit hätten wir die "arroganten fatzkes" ja alle beisammen, die sich - der "zerlumpten alten krähe" gleich, lieber auf das "wichtige im leben" hätten konzentrieren sollen... :D
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