Sequenzen von Lebensintervallen lösen sich ab, der Mensch unterstellt ihnen Kausalität. Für sich selbst reklamiert die Spezies Schicksal. Definitorisch salutieren schon viele Proben dieser Gattung durch die Geistesgeschichte, Bände voll könnte ein eifriger Eklektiker zusammenstellen und Bibliotheken füllen, wie die Floskelkenner so unbedacht artikulieren. Ein alter Konflikt um die Determination der menschlichen Vita soll nicht wieder aufgebrochen werden. Ohne Wissenskonserven auskommen heißt noch lange nicht Verhungern, die Jagd auf animalisches Fleisch soll selbst vonstatten gehen. Schicksal bezeichnet Ausweglosigkeit, in der die Wahl nicht wahrgenommen werden kann. Der Mensch kennt seine Optionen und sogar ihre Konsequenzen, doch ihm fehlt das Potential, eine abzulehnen, um eine andere zur Realität zu machen. Kausalitäten wie diese führen durch den Menschen hindurch, den es betrifft. Steinschläge, Erdbeben, Autounfälle oder Lottogewinne grenzen sich gegen das Schicksal ab und qualifizieren sich als höhere Gewalt, in der der Mensch Spielball der Natur und der Wahrscheinlichkeit außer ihm wird. Nun vibrieren schon seit Dekaden Stimmbänder, die die verhängnisvolle höhere Gewalt in den menschlichen Körper verlegen und auch hier über Steinschläge, Erdbeben, Autounfälle und Lottogewinne dozieren. Sie haben recht. Ich will ein Beispiel geben – das zeigt: Spuk und Rechthaben sind Geschwister.
Sissie, auf das „e“ besteht sie, lernte ich nur über Erzählungen einer sehr empfindsamen Freundin kennen. Sissie wohnte in einer Kleinstadt mit einer Freundin zusammen, die nicht die Freundin ist, die mir von ihr erzählt hat. Am Ende eines harten und langen Winters, dessen zur Seite aufgehäuften Schneeberge schon schwarz geworden waren, brachte klarer, warmer Südwestwind an einem Tag im März den Frühling. Die alten Leute jubilierten, holten ihre Boule–Kugeln aus dem Schrank und versammelten sich in geringer Zahl, als sie sich im Herbst verabschiedet hatten, auf den hellen Kieswegen eines Parks. Hübsche Mädchen stolzierten an ihnen vorüber.
Sissie empfing den Tag am Fensterbrett ihrer Küche, welches auf den Hof ging. Das weite, große Fenster geöffnet, auf Ellenbogen gestützt tat sie so, als sonnte sie sich. Dabei fiel ihr Blick aber auf die Betonwand des Nachbarhauses, in dem ein altes Paar hauste. In ihrem Rücken auf den Küchenhockern neckten sich heimlich ihre Freundin und deren Freund. Als ob Sissie nichts bemerkte, tauschten sie verstohlene Küsse, berührten sich auf nackter, verborgener Haut und prusteten los, als der Lachs sich im Kochtopf wand. Sissies Figur regte sich nicht. Ihre Jogginghose hüllte einen hüftlosen Körper ein, ihre geraden Linien auf Beckenpolstern würdigte niemand eines Blickes. Hals über Kopf schlang das Pärchen das Mittag in sich rein und verschwand für einen kurzen Moment im Zimmer. Sissie sah die Zerzausten ihres Weges ziehen, zum Park ließ sie die beiden Grüße tragen. An diesem Tag blieb sie allein. Am anderen auch. Auch die nächste Woche wechselte nichts ihre Situation. Der Sommer zog heran mit heißen Tage, hitzige Kerle lieferten sich Gefechte um begehrenswerte Mädchen. Einmal, da versank ein Verehrer mit einem süßen Lächeln in den Schlaf, doch zog die Sonne wieder auf, zog auch ihr Verehrer seiner Wege, und wieder stützte sie sich auf das Fensterbrett und starrte die Wand an. Im Herbst, die traurigen Tage des Winters kamen, drehte sie sich um zu ihrer Freundin am Küchentisch und sagte:
– Stimmt`s, das ist zu viel, das woll´n die nich`, stimmt`s?
Sie zeigte auf ihre Hüften.
– Hätt` ich so Riesendinger, hätt`...dann...oder?
Ihre Freundin wiegelte ab. Schicksal. Sissie drehte sich wieder um und murmelte:
– Ja, ich müsste wohl mal wieder schwimmen gehen.
Doch schwimmen ging sie nicht.
Als ich die Freundin kennenlernte, die mir von ihr erzählte, war Sissie immer noch alleine. Die Zeit verging, beiläufig erzählte mir meine sentimentale Freundin eines Abends ihre Geschichte. Im Witz verglich ich Sissies Lage mit der eines Genies, das zwar die Welt erklären kann, aber dafür auf ewig in seinem einen Muster, seiner einen Idee gefangen bleibt, aus der es Großes formt. Sie lachte traurig, meine Geschmacklosigkeit hatte den Abend gerettet. Spät in der Nacht, ihr Kopf lag an meinem, schmerzte Sissie sie noch immer. Diesmal aber sagte sie nur:
– Die Arme. Ihr Pech ist doch, dass niemand ihr hilft, da niemand ein Wort für ihr Problem gefunden hat, nicht einmal die Alten. Ist das nicht...? Ach, nein, das ist es noch nicht einmal.
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