Geschichten zum Thema Alltag

N° 8 Konzentration!

Beitragvon C.J. Bartolomé » Fr 21 Dez, 2012 12:00


Zwar konnte sie alle Funktionen ihres Körpers aufzählen und kam zu einem Ende, da ihre Zahl begrenzt war. Sie konnte auch zwischen den überflüssigen und den notwendigen Funktionen unterscheiden – doch sie unternahm diesen Versuch nur einmal, denn in einem Leben wäre sie nicht zweimal damit fertig geworden. Das Nagelwachstum beispielsweise war eine Funktion, die ihr unwichtig erschien.
– Eine Frau, die sich über lange Fingernägel zu einer Schönheit stilisiert, liegt aber viel an ihnen, dachte sie.
Die Konzentration besaß ebenso eine natürliche Seite, wusste sie, deren Existenz von Notwendigkeit bei der Lauer auf eine Gefahr war, die sie oft aber künstlich herstellen musste, um geistige Leistungen zu bringen. Die Grundlage ihrer Konzentration bildete die Gleichförmigkeit und die Persistenz einer Sinnesnutzung gegenüber der Welt oder der Sinnesprojektionen gegenüber ihrem Bewusstsein. Jede ihrer Gleichförmigkeiten unterbrach die notwendigen Funktionen ihres Lebens – der Schlaf das Wachen, der Wimpernschlag das Sehen, das Ausatmen das Riechen, das Schlucken das Schmecken. Abgesehen von den Unterbrechungen fehlte ihr aber oft die Kraft, die nötig gewesen wäre, Gleichförmigkeit beliebig zu erhalten. Langeweile eroberte sie schnell, sie sehnte sich dann nach Abwechslung im Leben wie in der Nahrung. Abwechslung inspirierte sie zwar, wenn sie überraschend einfiel, doch nur die Konzentration verschaffte ihr Identität und gedankliche Werke. Die minütliche Konzentration kannten alle ihre Freundinnen, die eines ganzen Tages kannte nur die Hälfte von ihnen. Schon in einem Tag vollbrachte sie, wenn sie gleichförmig geistig arbeitete, wirklich Gutes. Die Konzentration über mehrere Tage bis hin zu einer Woche, einem Monat kannte niemand von ihren Freundinnen, und auch sie kannte sie nur der Sache nach, nicht aber bei ihrem Eigen–Namen, denn einen solchen besaß die Monats–Konzentration nicht. Ebenso die Konzentration über ein Jahr, über ein ganzes Leben.
– Wer ein Leben konzentriert leistet, dachte sie, kann zu den Göttern gehen – der Platz bei ihnen ist ihm sicher. Die größten Schwierigkeiten liegen auf dem Weg dorthin als Schicksalsschläge, Krankheiten, politische Ereignisse, eine Seuche...die ständige Langeweile des vergessenen Körpers, die Anstrengung insgesamt. Die Konzentration über Monate strebe ich an, genau sie suche ich.
Sie wollte nach den Geheimnissen ihrer Existenz forschen, mit denen sie die weiteren lebensnotwendigen Fragen über das Ich, das Bewusstsein, die Sinne und den Willen lösen konnte. Warum wollte sie? Warum konnte sie leben? Warum schlief sie? Aber auch: Warum wollte sie nach Marseille ziehen? Wegen Jean?
– Jean...sinnierte sie, bevor sie sich wachrüttelte und dachte: Kontinuität, Persistenz, alles dasselbe. Die Schwierigkeit bleibt. Nur das reine Bestehen von Körper und Ich, von Erinnerungen, Sprache und Wahrnehmung überbrücken die Lücken der Konzentration. Schade, dass das reine Existieren noch keine Konzentration spendet.
Dazu verhalf ihr Jahre später der geschulte Wille.
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C.J. Bartolomé
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