– Hans! Das Jetzt und das Jetzt im Sterben sind gleich. Es gibt keine Entwicklung, die das Jetzt im Sterben zu einem Nach–dem–Jetzt im Sterben verwandeln, das dann Zufriedenheit und Ruhe stiften könnte. Jetzt ruhig zu sein, ist die Kunst, jetzt zufrieden zu sein!
Die Amseln erschraken und fingen an zu zetern. Er fuhr unbeirrt fort, gegen den Grabstein zu sprechen:
– Denn beide Jetzt sind gleich, die Sicht auf sie entdeckt mir Parallelität! Irgendwann, ganz unerwartet, verschmelzen die beiden, nein, besser: mir, dem ewig Dummen, geht ein Licht auf, dass sie identisch sind – nur im Sterben entdecke ich, dass...Gleichheit! Enthüllung! endigte er, in die Sonne blinzelnd.
Aber wer war Hans? Dort stand „Oberst H.W. Mair“, schwarz auf weiß, ein gewöhnlicher Friedhofsname. Eigentlich bezeichnete er den weißen von zwei Obelisken. Der marmorne Stein aber konnte unmöglich „Oberst H.W. Mair“ heißen. Die Menschen ließen sich nicht dazu herab, Steine zu bezeichnen, ebensowenig wie Klingeln oder Praxisschilder. Bezeichnet war die Person, die „Oberst H.W. Mair“ hieß. Aber anders als beim Prinzip der Beschilderungen an Häusern lebte der Oberst vermutlich nicht mehr, aus diesem Grund verfügten die Nachkommen Mair ja die Inschrift. Die modernden Knochen also, die Reste vom toten Oberst trugen den Namen „Oberst H.W. Mair“? Die abgenagten Überreste nennen die Menschen eher „das, was von Oberst H.W. Mair übrig blieb“. Scheinbar existierte keine Person mehr, auf die ein Name wie „Oberst H.W. Mair“ hätte zutroffen können. Warum aber um alles in der Welt stand dort dieser Name? Die Verwendung des Namens löste das Rätsel. Der krückengestützte Alte sagte „Hans“ und sprach mit „Hans“, als ob Hans vor ihm gestanden hätte. Und er nannte ihn nicht irgendwo beim Namen, sondern dort, am Ort der Inschrift, an dem der Name Realität besaß und dem müßigen Geist einen Zutritt zu seinen Erinnerungen bot; zwischen den Buchstaben schlüpfte der Gedenkende in seine Erinnerungen an die lebendige Person „Oberst H.W. Mair“ hinein, die Vergangenheit verlebendigte sich im Jetzt wie beim Ausgraben des jahrtausende im Sand versunkenen Tempels des ägyptischen Sonnengottes, in dessen Innern der Namenszug den Häftling der Erde entführte. Der Alte spielte mit seinem Geist, er las den Namen auf dem Stein über dem Toten, die Inschrift wies auf seine Erinnerungsfähigkeit und die Eigentümlichkeit seiner Gattung, so oder so offenbarte er also die skurrile Biologie seines erhabenen Geistes.
Der Alte knickte sich noch einen Zweig Forsythie ab, steckte ihn sich zu und krückte an den blutberauschten Joggern aus dem Carrée des Alten Schwabinger Friedhofs. Hinter der hohen Friedhofsmauer bog er nach rechts und verschwand.
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