Geschichten zum Thema Alltag

N° 19 Unsere Küche, unsere Kirche

Beitragvon C.J. Bartolomé » Do 11 Apr, 2013 19:40


Seitdem sie ihre Küche in vier Wände gelegt, fehlte Familie U. der instinktive Gusto, der ihr in der natürlichen Umgebung von Wald und Feld den Speiseplan geschrieben hatte. Mit Hildegard von Bingen trat ein erster Diktator auf den Plan der Familie, der in die eingemauerte Küche Weisheit träufelte. Jedem Kräuterchen, allem Gemüse und allem Obst verlieh sie eine Wirkung, doch ihre Worte verletzten die Geschmäcker aller U.s, indem sie statt derer Zungen und Näschen die Vernunft einsetzte, das Bekömmliche zu finden. Nicht der Geschmack, sondern die Sprache, die Worte spürten nun die Elemente auf, die ihren Körpern gut tun sollten. Und die U.s hielten sich daran, denn die Natur hatte sie verlassen. Nun trotteten sie im Supermarkt zwischen Konserven und Brot, das wabbelte, Gemüse, das nicht reif war, Obst, dessen Farbe und Festigkeit an Steine erinnerte. Ohne jede Hinweise, die ihnen die Nase sonst erschnupperte, die ihnen die Augen und Finger sonst entdeckten, legten sie als Shopping–People ihr Wissen an, das ihnen Hildegard und mittlerweile ihre Nachfolgerinnen eingeflösst hatten. In ihren Köpfen spukte es herum:
– Äpfel entgiften! Fisch hält rein! Kartoffeln entgiften! Tomaten halten rein! Karotten entgiften! Wein hält rein! Brot und Cola, Butter und Chips, Milch und Pizza, gut und schlecht, nährend und fettend, das Herz und die Galle!
Alles stand ineinander in einer Kategorie. Der Tag, die Stunde, die Sekunde hatten sie verlassen wie ihre Konstitution, ihre Art, zu leben, ihre Arbeit, ihre ganzen persönlichen und privaten Bedürfnisse nach diesem und jenem, sie fanden in sich keine Fürsprecher mehr, denn der große Diskurs erstickte ihre bedürftigen Zellen mit Wissen. Die Aufklärung zog am Einzelnen vorbei und weiter in die Hände ihrer Bücher, ihres Fernsehens, ihres Internets, wo sie für alle und für niemanden galten. Familie U. fiel nicht ein, ihre Instinkte zurückzuholen in ihre Sinne, denn das war anstrengend. Aus der Küche der anderen konnten sie nicht ihre eigene Küche machen, denn ihre Natur schwächelte, denn ihr Portemonnaie öffneten sie für ganz andere Zwecke.
Gleiches geschah, als Familie U. ihr Gebet in die Kirche verlegte. Gemacht für jeden einzelnen U., gemacht, um jedem Familienmitglied den Seelenfrieden und der Familie die Ordnung zum individuellen Glück zu schenken, geriet die Idee ihres christlichen Gebets in die Hände einer Organisation, die ihre Andacht zu verwalten begann und weder zum individuellen Glück noch zur familiären Ordnung einen Beitrag leistete. Aus ihren Händen das Gebet zurückzuverlangen, damit sie ihren Frieden wiederfinden könnten, brachten die U.s nicht fertig. Die Kirche hielt sie gefangen – wie die Küche ihre Zungen. Ihre Küche, ihre Kirche; ihr Körper, ihr Geist.
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