Geschichten zum Thema Alltag

N° 20 Das Alter und das Ende

Beitragvon C.J. Bartolomé » Sa 20 Apr, 2013 19:00


Auf sich selbst aufpassen heißt nicht nur, sein Leben möglichst gut zu führen, sondern auch, das Leben vor dem Tod zu schützen, was nicht nur unter dem Malmot „Selbsterhaltungstrieb“, sondern auch unter „Selbstliebe“ firmiert. Doch ab welchem Alter die Selbstliebe entsteht und ab welchem Lebensjahr sie stark genug ist, dass der Mensch sich selbst verantworten kann, beantwortete bisher niemand. Die Frage strebt nach einer Antwort, die schwer zu schätzen ist. Deshalb will ich ein Beispiel geben.
Britta stand in einem Alter von zweiundzwanzig Jahren und ihre Selbstliebe besaß eine derart starke Wirkung, dass sie die schwersten Schrecken erlitt, wenn sie daran dachte, zu sterben oder krank, ermordet, in einen Unfall verwickelt zu sein. Nicht mehr bereit, an imaginative Besetzungen ihres Endes zu glauben, zerfielen all ihre Ideen über das Ende und es blieb eine Panik, deren Attacken ihr Leben in Berlin zermürbte. Einen solchen Zustand kannte sie noch nicht, als sie dreizehn Jahre zählte. Damals noch hatte soviel Leben vor ihr gelegen und soviel Wachstum, soviel Veränderung und Ausdehnung der Welt, dass niemals der Gedanke an das eigene Ende sie unter Schock stellte. Dennoch fing sie damals bereits an, beim Fahrradfahren nach links und rechts zu äugen und zwar nicht aus Gewohnheit, sondern aus Angst vor der Gefahr für ihren Leib. Auch begann sie, sich auf der Straße vor der Sonne zu schützen und kritisch mit dem sich verbreitenden Konsum von Zigaretten, Drogen und Nachtstunden umzugehen.
Aber ihr Gedächtnis warf nur noch sehr trübes Licht auf die Zeiten ihrer Pubertät, auf die noch früheren Jahre fiel fast gar keine Erinnerung mehr. Deswegen blieb ihr nichts, als theoretisch ein Alter zu bestimmen, in dem sie begonnen hatte, sich selbst vor dem Tod zu schützen, indem sie ihre Vernunft in den Dienst des Lebenwollens schirrte.
Dafür suchte sie nach Erkenntnissen über die Sterblichkeit und des Selbstbewusstseins.
– Wann erfährt das Kind, dass es sterblich ist? fragte sie sich. Wann kommt der Moment der ersten und größten Ernüchterung?
Dem Wissen um die Sterblichkeit machte sie zwei Voraussetzungen, so die Begegnung mit dem Tod und die Fähigkeit, das Sterben eines anderen Menschen selbstreflexiv zu verstehen, und zwar als Möglichkeit für sich selbst, als Merkmal ihres eigenen Körpers, als Tod des eigenen Lebens. Die erste Voraussetzung, die Begegnung mit dem Tod, ließ sie also nur die hinreichende Bedingung sein. Die zweite, das selbstreflexive Bewusstsein, setzte sie erst nach die Pubertät, im Zuge der Vervollständigung der Fortpflanzungsfähigkeit. Mit der Begabung, in sich zu gehen und den eigenen Körper als endlich zu erkennen, verband sie die Entwicklung zu einem die eigene Sterblichkeit erkennenden Wesen.
– Ab diesen Jahren hat das Aufpassen auf sich selbst einen letzten Grund, in den Jahren davor trieben die Instinkte und flüchtige, austauschbare Gründe zum Aufpassen auf sich selbst, dachte sie. In den Jahren danach vergiftet die eigene Sterblichkeit das Denken und Fühlen des nunmehr selbstreflexiven Menschen!
Dieser Gedanke verursachte schwerwiegende Wirkungen, die schon lange an ihr arbeiteten.
– Nur wenn, dachte sie weiter, ich aus diesem Urgift eine Erkenntnis zum Lebenssinn gewinne, die ich zum Ich, zum Gedanken und zum Leben selbst verwende, mache ich eine Medizin aus ihm. Auf mich selbst aufzupassen heißt dann nicht mehr, rechts und links zu schauen oder die Haut zu cremen, sondern mein inneres Leben zu beschützen vor den Gefahren des Sterblichkeitsgedankens.
Sie schloss:
– Das ist die Entwicklung im Erwachsenenalter, nicht nur den Körper vor dem Tod, sondern auch den Geist und die Gefühle vor dem Tod zu schützen!
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C.J. Bartolomé
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