Geschichten zum Thema Alltag

Blau-Licht

Beitragvon kokoschanell » Do 21 Nov, 2013 10:50


Blau-Licht



Anna war noch nie blau- das war einfach nicht ihr Ding. Blau schien ihr unberechenbar.

Kalt, ohne die tiefere Kraft der Wahrheit. Ein blauer Himmel machte sie skeptisch, das Leben ist nicht blau, nur die Fiktion, die entsteht, wenn man mit Alkohol zugedröhnt und die Einschätzungsfähigkeit getrübt ist. Ein paar Quellwolken hier und da waren ihr stets auch lieber als Azur- Firmament. Ein Gewitter reinigt die Luft. Legt frei, was sich hinter der Fassade verbirgt.

Ausgerechnet Anna trat der neuen Partei bei, die sich blau auf die Fahne geschrieben hatte. Sie hatte diesem Umstand keinerlei Bedeutung beigemessen, solange nicht, bis deren Mitglieder als Wahlkampfposse in blauem Stretch Euroscheine auf dem Marktplatz einer großen Stadt verbrennen. Immer wieder betonen sie dabei, Frieden und Freiheit für alle europäischen Staaten erhalten zu wollen, nur wollten sie eben nicht, dass Deutschland für alle zahlen müsse.

Blau- äugig? „Viele Ökonomen sprechen sich für die Thesen dieser Partei aus, viele dagegen. Wer recht hat, wird die Zeit zeigen, aber: es hat in Deutschland schon einmal öffentlich Papier gebrannt,“ denkt Anna. Ihr Inneres beginnt zu forschen, kleine Teile , die ein gewichtiges Großes ergeben können, wie in einem Puzzle zusammenzusetzen.



Sie analysiert einen Leitfaden, der an alle Wahlkampfständler geht und diese auf die Beratung Interessierter vorbereiten soll. Anna ist alarmiert, meint braun gefärbtes Gedankengut zu sehen und stellt ihre Zweifel auf einem Mitgliederstammtisch vor. Es ist ein klarer Tag mit blauem Himmel, so was von blau. Unter ihm hängt die These von Frieden und Freiheit, auf die sich alle berufen. Schon einmal glaubten Menschen.

Anna verlässt den Stammtisch- noch am selben Abend tritt sie aus der Partei aus.



Der nächste Morgen zeigt sich düster, Wolken verhangen. Die ganze Welt wirkt irgendwie schlammig. Annas Mailkasten hat sich gefüllt mit Postings höherer Parteifunktionäre, die Anna zum Bleiben ermutigen. Nach der Wahl würde man Aufklärungsarbeit betreiben und da bräuchte man solche Mitglieder wie sie. Ein paar Versprengte mit diffusen Ansichten hätten sich in die Partei eingefunden. So nimmt Anna ihre Kündigung zurück und vertritt am Wahlstand die Position, dass sich die Blauen grundsätzlich für Gleichberechtigung aller Europäer einsetzen würden, ohne allerdings für einander zu haften.

Der Kontakt zu den vielen fragenden Menschen macht ihr Freude, sind es doch ihre eigenen Fragen, die sie sich schon oft gestellt hat. Sie verströmt Aufbruchstimmung, wirkt seriös und man nimmt es ihr ab. Eine Verantwortung, die sich wie Blei auf ihre Schultern legen soll.

Nach der Wahl schlägt man sie für ein leitendes Amt vor, zumal fast alle Vorstände zurücktreten um für die Wahlschlappe Verantwortung zu übernehmen.

Just in dem Moment, da die Vorstandswahlen anstehen, wird ihr mitgeteilt, dass sie doch gekündigt habe. Sie sei ja gar kein Mitglied mehr.



Dennoch prüft Anna weiter. Auf der Wahlparty gibt es offizielle Äußerungen der obersten Vorstände, die die namhaften Zeitungen in ihren Polit-und Wirtschaftsteilen als rechts-populistisch einstufen. Man dementiert, was das Zeug hält, stellt sich als Opfer der Presse dar und verbittet sich derlei Kommentierung.

„Die Presse, das Korrektiv unserer Gesellschaft, deren Meinung nicht immer zwangsläufig korrekt sein muss, die doch aber stets als höchste Errungenschaft unserer Demokratie ihre Meinungsfreiheit innehat“, denkt Anna.







Plötzlich erinnert sie sich an den Professor, der sie vor vielen Jahren an der Uniklinik behandelte, weil sie offenbar Probleme hatte, eine Schwangerschaft zu halten. Es war ein Inder, der sich schon ein wenig entrüstet gab, als er ihr vorwarf: „Da brauchen sie sich ja nicht zu wundern, wenn sie irgendwann vorher eine schlecht gemachte Abtreibung hatten!“

Anna war entsetzt. Nie und nimmer hatte sie eine Abtreibung gehabt, nie und nimmer hätte

sie einer Abtreibung zugestimmt. Die Vehemenz, mit der sie das vertrat, ließ den Arzt aufhorchen. „Haben Sie denn irgendwann einmal den Eindruck gehabt, schwanger zu sein?“. Anna horchte in sich hinein und es kamen die Bilder, die sie so lange verdrängt hatte.

Damals war sie sehr jung gewesen, sie hatte im Ausland gearbeitet und war nach hause zurückgekommen, ja, weil sie dachte schwanger zu sein. Sie waren so verliebt gewesen- Abdel, der marokkanische Student der Philosophie und sie. Sie hatten heiraten wollen.



Der deutsche Arzt, ein großer, blonder Mann, den sie wenig kannte, untersuchte sie. Murmelte irgendwas von Entzündung , schlimm, schlimm. Als Anna vom Behandlungsstuhl aufstand, schwebte vor ihr ein tiefblauer Nachthimmel, der mit unendlich vielen Sternen geschmückt war. Einer hüpfte immer auf und ab und schien ihr zuzuwinken. Sie fiel dem Arzt direkt in die Arme.

Nein, schwanger wäre sie nicht gewesen, betonte der Arzt, als sie wieder erwachte und selbst wenn, dann hätte sie doch sicherlich kein Kind von einem primitiven Berber haben wollen?



Nein, Anna war nie blau- und sie ist auch mit fünfundfünzig nicht mehr blau-äugig.

Am Tag, an dem sie ihren Posten in der Partei ablehnt und erneut ihre Mitgliedschaft kündigt, treiben zahlreiche Schäfchenwolken am Himmel- fast wie Kinder spielen sie.
Vielleicht stünde es besser um die Welt, wenn die Menschen Maulkörbe und die Hunde Gesetze bekämen.

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Re: Blau-Licht

Beitragvon rabi » Fr 22 Nov, 2013 07:10


Yes, 'n' how many times can a man turn his head,
Sì, e quante volte un uomo può voltare la testa
Pretending he just doesn't see?
Fingendo di non vedere?
The answer, my friend, is blowin' in the wind,
La risposta, amico, sta soffiando nel vento
The answer is blowin' in the wind
La risposta sta soffiando nel vento




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Re: Blau-Licht

Beitragvon kokoschanell » Sa 23 Nov, 2013 20:54


well, dear rabi, thanks für your comment
and sometimes it's not blowing in the wind, but into a lyrical forum. :)
smile from koko
Vielleicht stünde es besser um die Welt, wenn die Menschen Maulkörbe und die Hunde Gesetze bekämen.

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