Uuund: Action!
„Was macht eigentlich die Frau Zimmermann?“, fragt Helge, bevor er sich seinen Joint anzündet.
„Donnerstags ist sie beim Kirchenchor - kannst ruhig loslegen“, antworte ich grinsend und lasse den Sektkorken an die Decke ploppen.
Wenn Helge kommt, süchteln wir um die Wette. Wir fangen mit Pizza und Chianti vom Italiener um die Ecke an und hören erst auf, wenn einer von uns umfällt oder einschnarcht.
Meine Vermieterin, Frau Zimmermann, ist eine nette, alte Dame, die einmal am Tag warm isst, zweimal in der Woche hingebungsvoll ihren Flur feudelt und dreimal pro Woche ihre sozialen Kontakte pflegt. Das tut ihr und mir gut - da ich an diesen Tagen von Helge belagert werde, der sich in seinem bekifften Kopf immer irgendeinen Scheiß ausdenkt, was ich, beschickert, wie ich meistens bin, unwiderstehlich finde.
Seit einigen Semestern studieren wir zusammen – was bei mir nur so viel heißt, dass ich so tue, als ob. Meine Eltern haben diese kleine Wohnung im Dachgeschoss bei ihrer Bekannten, der Frau Zimmermann angemietet. Die alte Dame soll ein Auge auf mich haben, deshalb hat mein Vater gleich drei Monatsmieten im Voraus hingeblättert. Seitdem kommt sie ab und zu in der Mittagszeit zu mir hoch und bringt mir zur Tarnung ein Schüsselchen mit Selbstgekochtem, wobei sie unauffällig einen misstrauischen Rundumblick durch mein Wohnklo startet. Mir kann das wurscht sein, tagsüber bin ich noch recht ordentlich, soll sie ruhig gucken. Frau Zimmermann kann zwar noch gut sehen, aber sehr schlecht hören. Und das kommt mir sehr gelegen, seitdem Helge regelmäßig bei mir vorbeikommt. Wie gut, dass sie tagsüber häufig unterwegs ist und abends vorm Zubettgehen ihr Hörgerät ausschaltet. Und sie geht Gott sei dank früh ins Bett. Als ich mich mal nach einer Spontanfeste für den Krach bei ihr entschuldigen wollte, winkte sie gnädig ab: „Ach, lass man, Kindchen“, spätestens um elf Uhr bin ich im Bett und höre nichts mehr – aber trotzdem: in Maßen feiern, in Maßen!“
Damit unser gutes Miet-Verhältnis weiterhin ungestört bleibt, erlaube ich Helge das Kiffen nur, wenn Frau Zimmermann aus dem Haus ist - wie heute.
Helge und ich haben bereits eine Flasche Rotwein beim Italiener geleert, und jetzt geht’s mit Prosecco weiter. Helge saugt an seiner Tüte, als gäbe es kein Morgen. Mir ist jetzt nach Santana und während „Black Magic Woman“ die Gläser im Regal vibrieren lässt, hält Helge mir grinsend seinen Joint hin. „Nee, lass man gut sein, Alter – Dummheit kifft, Intelligenz säuft – oder wie war das?“
Eine Stunde später ist er reichlich stoned und ich angeschickert. Santana läuft im Endlosmodus und ich tänzele gerade in Halbtrance versunken über den Flokati, da meint Helge: „hey, baby – lass uns zusammen skilaufen!“
„Wasss?“ frage ich, und bleibe so abrupt stehen, dass ich torkelnd den kleinen Tisch mit den Räucherstäbchen umwerfe.
Ich hätte jetzt sooo Bock auf Ski fahren “, sagt Helge und lacht unwiderstehlich.
„Bisss du bescheuert? Es ist Anfang Juni. Wo soll man da Ski fahren, he? Schlag noch wasss vor, wasss wir garantiert nicht können – meine funkelnagelneuen Skier stehen seit Weihnachten auf dem Dachboden und modern da vor sich hin…“
„Wie, du hast welche? Holen, baby: ho-len!“ Helge rappelt sich mühsam aus dem Schneidersitz und wankt mir mit offenen Armen entgegen. „Arghhh, ich WUSSTE es: du hast echt Traumfrauqualitäten! Nun sei mal spontan und hol` deine Skier vom Dachboden, Büddebüddebüdde!“
Wie ein kleiner Junge steht er bettelnd vor mir und macht Wunschaugen. Ich kann diesem Helge-Blick nicht widerstehen. Ich gebe nach und gucke erstmal im Flur, ob die Luft tatsächlich rein ist. Unten bei Frau Zimmermann ist alles schön dunkel. Gut. Ich gehe in leichtem Zickzack zur Dachbodentür und versuche, mich im schummrigen Licht zu orientieren. Ich habe dort einen kleinen Verschlag für das sperrige saisonale Equipment, das ich im Wohnklo nicht unterbringen kann: mein Zelt samt Schlafsack, meine Inliner, eine Luftmatratze, drei Sonnenhüte, zwei Karnevalskostüme, zwei Wintermäntel – und meine Skischuhe und die Skier.
Helge lehnt im Flur, seinen zweiten Joint in der Hand und nimmt mir selig die sperrigen Dinger ab, während ich mit Schuhen und Stöcken hineingewankt komme.
„Weisss du dasss du`n Vollidiot bisss?“
„Ey, wir machen jetzt DAS ultimative Skifahrer-Photo. Und twittern das unseren Freunden, wuhahahharrrharrr …!“ ruft Helge.
Der ist völlig aus dem Häuschen. Und langsam finde ich Gefallen an seiner Idee: „Geniaaal, Alter - ich hol` eben meine Winterjacke und Mütze, nä?“ Kichernd schenke ich mir Prosecco nach: „Prrrrrrrost Deutscheland, mein Wintermärchen!“
Als ich bepackt mit den Klamotten vom Dachboden komme, sitzt Helge im Flur auf dem Boden und bemüht sich gerade, seine großen, nackten Füße in meine Skischuhe, Größe 42, zu quetschen. Ich sehe ihm dabei zu und binde ihm dann liebevoll die Strippen meiner Norwegermütze unter dem Kinn zur Schleife. Er sieht jetzt aus wie Tante Käthe auf Speed. Ich steuere alles an Requisiten bei, was ich finden kann. Die zweite Flasche Prosecco verlässt den Kühlschrank und da wir beschäftigt sind, süppeln wir gleich aus der Flasche. Helge steht jetzt breitbeinig und leise schwankend in meiner braunen Felljacke auf den Skiern. Die Norwegermütze hängt schief über seiner schweißbedeckten Stirn und ich mache mich bald nass vor Lachen. „Hol dein Handy, schnell – ich muss pinkeln, wuhahahaaa“, brüllt Helge und ich renne ins Wohnzimmer, meine Handtasche suchen.
Als ich zurückkomme, ist Helge nicht mehr da. Die Wohnungstür steht sperrangelweit offen und ich haste in den Flur. Helge hat sich am Treppenaufgang aufgebaut und lacht mir nasal über die Schulter zu. Er hat meine Taucherbrille auf.
Vor Lachen kann ich kaum mein Handy still halten:
„Uuund: Action!“
Helge strahlt mich selig besoffen an – da reißt es ihn plötzlich nach vorn und er brettert in Schussfahrt abwärts.
Während ich mich im Lachflash krümme und mir die Knie einknicken, kommt Frau Zimmermann in den Flur.
Der Rest ist ein dumpfes Krachen und Bersten und ein spitzer Schreckensschrei von Frau Zimmermann, die es zu Boden gehauen und unter Helge zum Liegen gebracht hat.
Blind vor Lachtränen wiehere ich oben noch am Treppenabgang herum und es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich begreife, was da gerade passiert ist. Mein Blasenschließmuskel schnürt sich unter meinem Hals zusammen und kalte Schauer rieseln über meine Wirbelsäule. Vor Schreck bin ich wie erstarrt.
Unten rappelt sich Helge mühsam auf und will Frau Zimmermann ebenfalls auf die Beine stellen. Die aber wehrt sich, schreit Zeter und Mordio und haut nach ihm mit ihrer Handtasche.
„Ruf mal `n Krankenwagen“, murmelt Helge mit schneeweißem Gesicht und löst hastig die Bindungen von den Skiern, „ich glaube, die Lady hier hat was gebrochen!“
Ich funktioniere auf Autopilot: rufe per Handy einen Krankenwagen, stolpere danach mit einer Wolldecke die Treppe hinunter, zische dabei Helge an: „mach, dass du nach oben kommst und zieh sofort die Klamotten aus – und lass dich hier nicht mehr blicken, hörst du!“ Helge trollt sich geschockt und sammelt die zerbrochenen Teile auf, die meine Skier waren. Ich bin plötzlich stocknüchtern und habe Schiss, dass die Sanitäter den zugedröhnten Helge und mich Suffkopp gleich mitnehmen wollen. Beruhigend rede ich auf die am Boden liegende Frau Zimmermann ein und tätschle ihr die Hand, bis der Krankenwagen kommt.
Erst, als die Sanitäter mit Frau Zimmermann Richtung Krankenhaus unterwegs sind, denke ich wieder an Helge. Eine Weile sitzen wir beide geschockt in der Küche und suhlen uns im Katzenjammer: Wenn Frau Zimmermann etwas Schlimmes passiert ist - sind wir Schuld! Nicht auszudenken, wenn sie …!
„Ich zieh mich schnell um und du rufst ein Taxi, wir müssen ins Krankenhaus, nach ihr sehen. Und trink` deinen Kaffee aus, damit du runterkommst!“ kommandiere ich Helge. Ich bin erstmal stellvertretend auf ihn sauer, statt auf mich und es ist mir Scheißegal, dass er humpelt.
Eine Stunde später sind wir in der Notaufnahme und fragen nach Frau Zimmermann. Wir lügen dreist an der Rezeption, Frau Zimmermann habe keinerlei Verwandte mehr und ich sei ihre einzige Untermieterin. Sie brauche ja sicher einen Ansprechpartner und ihre Sachen …Wäsche oder so etwas.
Die Dame hinter der Glaswand beäugt uns misstrauisch und liest unengagiert die Liste rauf und runter. Dann scheint sie fündig geworden zu sein.
„Frau Zimmermann ist hier um 20.00 Uhr eingeliefert worden …“
Na also, geht doch! Ich seufze hörbar auf.
„ … aber sie ist nicht mehr hier – sie ist gleich verlegt worden.“
Oh. Mein. Gott. Ein komplizierter Bruch? Alte Menschen kriegen doch so schnell einen Oberschenkelhalsbruch ... und landen dann im Rollstuhl … Was haben wir bloß angerichtet! „Wo ist sie denn jetzt? Bittebitte, ich muss sie sehen, un-be-dingt!“ stammele ich mit zitternder Unterlippe, während Helge betreten seine Schuhe meditiert.
„Da müssen sie rüber zu den Rheinischen Kliniken, Haus 22, Station 3“, antwortet die Frau und ist dabei so emotional kataton, wie es sich für eine Empfangsdame in der Notaufnahme gehört.
Im Eiltempo stolpern wir kreuz und quer durch die Abenddämmerung über das Klinikgelände, bis wir endlich vor einem Hochhaus mit der Nummer 22 stehen.
Auch hier stehen wir wieder vor der Glasscheibe einer Rezeption. Ich leiere also wieder denselben Text, während Helge wieder den stummen Begleiter mimt.
Die Dame hinter Glas scheint auch hier so einiges gewohnt zu sein und hört sich schweigend unsere Story an.
„Vierte Etage, Geronto – fragen sie den Arzt in Bereitschaft oder das Pflegepersonal.“
Als wir endlich dort angekommen sind, will man uns nicht hinein lassen. Bedröppelt lesen wir: „GERONTOPSYCHIATRIE“ und machen jetzt wohl einen so fertigen Eindruck, dass ein Arzt wenigstens kurz aus der Tür schaut.
Nein, er dürfe uns keine Auskunft geben. Nur so viel: der Sturz habe, außer ein paar Prellungen, keine nennenswerten physischen Folgeschäden.
„Aberaber“, stottere ich kläglich, „warum liegt den Frau Zimmermann hier auf der Psychiatrischen, die war doch geistig immer gut beisammen?“
Der Arzt und mustert uns von oben bis unten. „Bei älteren Menschen kann es nach einem schweren Sturz vorkommen, dass sie danach etwas verwirrt sind. Bei der Befragung nach dem Unfallhergang hat uns die alte Dame eine dermaßen abstruse Geschichte erzählt: Nachdem sie den Hausflur betreten habe, sei sie von einem Skifahrer umgefahren worden …“