Fantasy ab 16 von Yve

Kapitel 3

Beitragvon Yve » Fr 20 Aug, 2010 13:52


Kapitel 3

Durch das kleine Fenster brachen die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages. Aurelia streckte sich genüsslich, kuschelte sich in das Kissen und schnurrte leise wie eine Katze. Sie hatte wunderbar geschlafen und fühlte sich erholt. Langsam öffnete sie die Augen und zuckte kurz zusammen, als sie sich ihrer Umgebung bewusst wurde. Sie war noch immer dort, wo sie nicht hingehörte. Für einen kurzen Moment hatte sie gehofft, dass dies alles nur ein böser Traum war, jedoch wurde sie jäh enttäuscht. Aurelia stand auf und öffnete das Fenster um die frische und kühle Morgenluft in den Raum zu lassen. Sie atmete mehrmals tief ein und aus, rieb sich das Gesicht und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Aurelia war irgendwo im Nirgendwo und sie konnte rein gar nichts daran ändern. Diesen Umstand hatte sie soweit akzeptiert. Ihre Möglichkeiten hielten sich definitiv in Grenzen und das Beste, was sie tun konnte war, sich an diesen Naltar zu halten. Alles Weitere würde sich irgendwie ergeben. Sie war nun fest entschlossen diese schreckliche Situation best möglich zu meistern. Dieser Gedanke gab ihr wieder etwas Kraft und Hoffnung. Neugierig sah sie sich in ihrem Zimmer um. Es war spärlich eingerichtet. Lediglich ein kleiner hölzener Schrank und ein Nachttisch standen an einer Seite der Wand. Auf dem kleinen Tisch selbst befand sich eine Schüssel, die mit klarem Wasser gefüllt war. Sicherlich war das Wasser dafür gedacht um sich waschen zu können, was Aurelia auch tat, nachdem sie sich ihrer Hose und dem Pullover entledigt hatte. Das Wasser war kalt, aber wenigstens verschwand ihr unangenehmer Körpergeruch. Kurz nachdem Aurelia sich wieder angezogen hatte, klopfte es an der Tür. Vorsichtig öffnete sie diese und lugte durch den Spalt. Es war der freundliche Naltar. „Mädchen beeile dich. Wir müssen aufbrechen.“, flüsterte er. Aurelia nickte, nahm ihre Handtasche vom Bett und verließ mit Naltar zusammen das Haus. Auf der Straße angekommen fragte sie neugierig: „Wohin gehen wir?“. „In mein Haus.“, antwortete er kurz angebunden und setzte sich in Bewegung.

Sie verließen Blacksand Hill in Richtung Norden und folgten immerzu einem schmalen und matschigen Pfad, der durch einen dunklen Wald führte. Naltar ging wortlos voran und Aurelia schlurfte hinter ihm her, während sie ihren Gedanken nachhing. Der Geruch von feuchtem Gras lag in der Luft, der Himmel war bewölkt und es nieselte leicht. Das Wetter passte zu Aurelias Stimmung. Sie kam sich schrecklich verlassen vor und hoffte inständig, dass der alte Mann ihr helfen konnte. Plötzlich raschelte es rechts und links von ihnen im Unterholz und der Boden begann leicht zu beben. Aurelia wurde ängstlich und blickte sich um. Naltar ergriff ihren Arm und zog sie beiseite. Wie aus dem Nichts kamen mehrere Reiter angallopiert, die wohl keine Rücksicht auf Fußgänger nahmen. Einer der Reiter hätte Aurelia um haaresbreite umgestoßen. Es waren etwa zehn Männer. Einige von ihnen in schwerer Rüstung, andere in edler Kleidung mit aufgestickten Wappen. Allesamt wirkten sie bedrohlich und instinktiv zog Aurelia ihren Kopf ein. „Gesandte.“, klärte Naltar sie auf. Nachdem die Reiter vorbeigezogen waren, setzten Naltar und Aurelia ihren Weg fort.

Gegen Mittag kamen sie in einem kleinen Dorf an. Naltar sprach mit einer Bauersfrau, die ihm wenige Minuten nach der Unterredung ein kleines Lunchpaket in die Hände drückte. Naltar nahm es dankend entgegen und ging weiter. Kurze Zeit später hielten sie an einem See. Naltar setzte sich, bedeutete Aurelia es ihm gleichzutun und entpackte das kleine Bündel der Bäuerin. Er reichte ihr ein Stück Brot und etwas Trockenfleisch. Still saßen beide nebeneinander, starrten auf den See und aßen. „Ich kenne viele Mysterien der Welt, aber deines Mädchen entzieht sich meiner Kenntnisse. Mache dir keine Illusionen über meine Fähigkeiten. Ich werde versuchen dir zu helfen, aber ich werde auch einige Zeit dafür benötigen.“, brach er sein Schweigen. Aurelia nickte etwas enttäuscht. Er fuhr fort: „Du wirst bei mir ein Zuhause finden, allerdings erwarte ich eine Gegenleistung für meine Bemühungen.“. Aurelia riss erschrocken die Augen auf und er begann zu lächeln, so als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Du musst mir als Gegenleistung etwas im Haushalt zur Hand gehen. Das ist meine Bedingung. Bist du damit versöhnlich?“, fragte er. Erleichtert lächelte Aurelia und nickte einvernehmlich. Er hüllte sich wieder in Schweigen, aß sein letztes Stückchen Brot und machte sich bereit um weiter zu gehen. Seltsamerweise vertraute Aurelia ihm. Es war nur fair, dass sie ihm im Haushalt half, während er versuchte einen Weg zu finden, sie wieder nach Hause zu bringen. Schließlich war er alt und ihm fielen einige Arbeiten sicher schwerer, als ihr. Mit diesem Kompromiss konnte sie gut leben.

Langsam dämmerte es und schließlich erreichten sie eine Waldlichtung auf der sich eine Holzhütte befand. Das Haus wirkte klein, aber gemütlich. Naltar nahm einige Holzscheite von einem Stapel, die neben der Einganstür aufgeschichtet lagen und ging in das Haus. Wortlos machte er Feuer in einem Kamin, zog seinen Umhang aus und legte ihn auf einen der hölzernen Stühle. Anschließend hängte er einen gusseisernen Kessel, gefüllt mit Wasser, über den Kamin und setzte sich erschöpft. Im warem Licht des Feuers wirkte er älter als am Morgen. Aurelia setzte sich neben ihn und wartete darauf, dass er ihr offenbarte, was er zu tun gedachte. „Erzähle mir etwas über deine Heimat.“, bat er. Irritiert erfüllte sie seinen Wunsch und begann mit voller Leidenschaft über die wahrscheinlich schönste Stadt der Welt zu berichten. Sie erzählte von ihren Freunden und ihren Eltern. Darüber, was sie schon alles erlebt hatte und während all ihren Erzählungen behielt sie Naltar argwöhnisch im Auge. Seltsamerweise schien er ihr zu glauben und keinerlei Zweifel machten sich auf seinem Gesicht bemerkbar. Zwischendurch stand er auf, schnitt etwas Gemüse klein und gab es zusammen mit einigen Brocken Fleisch und verschiedenen Gewürzen in den Kessel über dem Feuer. Nachdem Aurelia die Höhepunkte genannt hatte, die ihr eingefallen waren, fragte sie schüchtern: „Darf ich Sie etwas fragen?“. Er beäugte sie gründlich und korrigierte: „Darf ich Euch etwas fragen. So spricht man hierzulande.“. Aurelia nickte und wiederholte ihre Frage korrekt: „Darf ich Euch etwas fragen? Wo bin ich hier?“. Schließlich antwortete er präzise: „Du befindest dich im Lande Teredor. Wir zählen das Jahr 600 nach Whalian.“. Aurelia zog fragend die Augenbraue nach oben. Wo zum Henker lag „Teredor“ und was bitte war ein „Whalian“? Sie verstand nur Bahnhof. Schweigend stand Naltar auf, nahm eine Kelle und füllte zwei Teller mit fertigen Suppe. Einen davon reichte er Aurelia, die diesen dankend entgegen nahm. „Ich verstehe nicht...“, rief sie ärgerlich. Er redete um den heißen Brei herum und blieb ihr Antworten auf die Fragen schuldig, die so wichtig für sie waren. Naltar hielt inne und beschwichtigte sie: „Seit je her gibt es Dinge, die wir nicht verstehen. Zuerst...musst du deine Erinnerung zurückerlangen wie du hier her kamst.“. Großartig. Als würde sie das nicht selbst gerne wissen. Damit konnte sie sich nicht zufrieden geben und als sie im Begriff war erneut nachzufragen, hob Naltar seine Hand und gebot ihr Einhalt. Einen Moment lang verstummte sie und beschloss es dabei zu belassen. Das dumpfe Gefühl beschlich sie, dass es ein hartes Stück Arbeit werden würde ihm die so wichtigen Informationen zu entlocken. Schweigend wittmete sich Aurelia ihrer Suppe, obwohl sie innerlich brodelte.

Nach dem Essen zeigte Naltar Aurelia ihr zukünftiges Zimmer, so lange sie bei ihm bleiben würde. Es ähnelte eher einer Besenkammer in der Bett, Tisch und Schrank untergebracht war. Allerdings lag es Aurelia fern sich in irgendeiner Form zu beschweren. Obwohl er ihren Wissensdurst nicht stillte, bot er ihr dennoch ein Dach über dem Kopf, warme Mahlzeiten und Sicherheit in einer Umgebung, die ihr völlig fremd war. Erneut bedankte sie sich bei ihm, er wünschte ihr eine geruhsame Nacht und Aurelia legte sich schließlich schlafen.

Aurelia erwachte als es gerade dämmerte. Sie stand auf, wickelte die kratzende Wolldecke um ihren Körper und verließ das Haus. Draußen setzte sie sich auf einen Baumstumpf, schloss die Augen, sog die kühle und klare Luft tief ein und genoss die Ruhe. Kleingetier huschte durch das Unterholz, welches leise knackte, und die ersten Vögel verließen ihre Nester, um sich auf die Futtersuche zu begeben. Eine leichte Brise fegte durch die Blätter und allmählich brachen die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume. Aurelia genoss diesen Moment der Stille und Sorglosigkeit. Schließlich stand sie auf und machte sich daran ihr Versprechen, das sie Naltar gegeben hatte, einzulösen. Er würde sich sicher darüber freuen, wenn sie einen Tee und etwas zum Frühstück zubereitet hatte, bis er aufwachte. Sie nahm einige Holzscheite von dem Stapel, brachte sie in das Haus und schichtete sie im Kamin aufeinander. Dazwischen steckte sie etwas Papier, dass sie in irgendeiner Ecke gefunden hatte und versuchte ein Feuer zu entfachen. Aurelia hatte Naltar am Abend zuvor genau beobachtet und bemerkt, dass er zwei Steine aneinander geschlagen hatte um Funken zu erzeugen. Zwar hatte sie noch nie ein Feuer gemacht, aber von Feuersteinen hatte schließlich schon jeder einmal etwas gehört. Sie versuchte die gleiche Taktik wie er anzuwenden. Schon nach wenigen Minuten sprangen kleine Funken auf das Papier über, welches leicht anfing zu lodern. Vorsichtig pustete sie auf das glühende Stückchen Papier und tatsächlich begann das Holz wenige Minuten später an zu brennen. Aurelia hatte in diesem Moment das Gefühl, das Rad erfunden zu haben. Sie war stolz auf sich und ihre gute Beobachtungsgabe. Auf einem kleinen Tisch unter einem Fenster standen mehrere gusseiserne Kessel. Sie griff nach einem davon, ging nach draußen und sah sich um. Irgendwo musste hier ein Brunnen zu finden sein. Mehrere Mal ging sie um das Haus herum ohne fündig zu werden. Sie erinnerte sich daran, dass sie am vergangenen Tag an einem kleinen Flusslauf vorbei gekommen waren, der nicht weit von der Hütte entfernt war. Also machte sie sich auf den Weg richtung Süden. Nach etwa zehn Minuten kam sie an dem Fluss an, der nicht ganz so klein war, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Aurelia kniete am Ufer nieder, hielt den Kessel in die Strömung und zufrieden mit ihrem scharfen Orientierungssinn, ging sie wieder zurück zum Haus.

Die schwere Flügeltür wurde energisch aufgestoßen und ein großgewachsener Mann rauschte in den Saal. „Bruder!“, ertönte eine erfreute, weibliche Stimme. Seine Schwester saß am Kopf eines langen Tisches und aß. Wie immer war sie prunkvoll gekleidet und ihre Schönheit faszinierte ihn immer wieder von Neuem. Sie erhob sich und breitete die Arme aus, bereit ihre herzliche Begrüßung zu empfangen. „Setz dich und iss etwas mit mir. Du wirst sicher erschöpft und hungrig sein.“, rief sie besorgt. „Gerne nehme ich Eure Einladung an, Majestät.“, sagte er und verbeugte sich tief. Sie begann zu lachen: „Ich bitte dich! Wir sind alleine und du bist nicht an Höflichkeiten dieser Art gebunden. Ich dachte dieses sei dir bewusst.“. Ehrerbietend nickte er und nahm Platz. Natürlich war er das nicht und selbstverständlich wusste er dies. Aber er war gut genug erzogen worden um ihrer Bitte, nach mehr Intimität unter Geschwistern, nicht nachzugeben. Seraia war alleinige Herrscherin, seine Königin und er wusste was sich gebührte. „Nun denn, stärke dich und berichte mir von deinen Reisen. Hast du den Auftrag, den ich dir gab, erfüllt?“. „Selbstverständlich.“, entgegnete er und überreichte ihr eine Schriftrolle, die mit dem Siegel des Orinos verschlossen war. Seraia nahm das Schriftstück entgegen, brach das Wachssiegel und las. Einen Augenblick später kreischte sie wutentbrannt auf und entzündete den Brief an einer brennenden Kerze, die auf dem Tisch stand. „Dieser ungläubige und unfähige Mensch. Was erdreistet Orinos eigentlich mein Gesuch abzulehnen?!“. Er zog die Augenbraue nach oben und wartete darauf, dass sie fortfuhr. „Orinos, König von Teredor lehnt ein Bündnis mit mir, Seraia von Lheridar, Herrscherin von ganz Karadin ab! Ich war so gnädig und wohlwollend ihm gegenüber und dies ist der Dank.“. Seraia kochte vor Wut und konnte sich kaum im Zaum halten. Hitze stieg in ihr Gesicht, ihre Augen schwärzten sich bösartig und sie schrie ihren Bruder an: „Du warst nicht überzeugend genug. Nicht genug! Wie soll ich meine Pläne durchführen wenn dieser Schwachkopf ständig seine Spitzel auf mich hetzt?“. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihn im Moment nicht als Schwester, sondern als Königin gegenüber stand, und so schwieg er. Orinos war kein Schwachkopf. Er war klug und vorsichtig, dieses musste er ihm zugestehen, aber genau diese Eigenschaften durchkreuzten Seraias Pläne. Seraia ging auf und ab, kreischte und zerrte an ihren Kleidern. Einige Zeit später setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl, goss sich selbst Wein in einen goldenen Kelch, leerte diesen in einem Zug und atmete tief ein. Schließlich sagte sie ruhig: „Nun gut. Ich weiß, du hast sicher dein Möglichstes getan um ihn zu überzeugen. Seine eigene Dummheit wird ihm eines Tages zum Verhängnis werden. Sorge dafür, dass er abgelenkt wird. Mir ist egal was du tust, aber halte mir diese Wölfe vom Leib!“. Untertänigst nickte und verbeugte er sich, was sein Versprechen besiegelte, sich einen neuen Plan einfallen zu lassen. Von einer Sekunde auf die nächste war sie wieder seine liebende Schwester und zirpte freundich: „Komm, erzähle mir von deiner anderen Reise. Bist du fündig geworden?“. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er nickte. Seraias Augen begannen zu glänzen in Anbetracht des hölzernen Kästchens, dass ihr Bruder ihr entgegenstreckte. Sie nahm es ihm ab, fuhr mit den zarten Fingern über die goldene Inschrift und konnte es kaum erwarten den Inhalt endlich in Händen zu halten. Vorsichtig öffnete sie das Kästchen und ein lautes Lachen entfuhr ihr. „Endlich!“, flüsterte sie geheimnisvoll. Ihr Bruder räusperte sich und sagte in festem Ton: „Eure Majestät, ich befürchte wir haben da noch ein anderes Problem.“. Misstrauisch sah sie ihn an und gebot ihm zu sprechen. „Unerklärlicherweise konnte mir eine Person folgen.“. Erschrocken rief sie: „Bist du dir sicher?“. Er nickte. Einen Moment lang zogen ihre Gedanken Kreise, bis sich schließlich ein hämisches Lächeln auf ihre Lippen legte: „Finde diese Person. Vielleicht ist das genau die richtige Ablenkung für Orinos und seine Ansammlung alter Greise.“. Er erhob sich, verbeugte sich erneut, verließ den Saal und ohne sich auszuruhen befolgte er die Befehle seiner Königin.

„Was tust du da Mädchen?“, fragte Naltar. „Ich erbringe Euch meine Gegenleistung, wie es unsere Vereinbarung vorsieht.“, antwortete Aurelia, während sie den Kopf etwas senkte und eine Verbeugung andeutete. Naltar war sichtlich überrascht und begann schief zu lächeln beim Anblick ihres seltsamen Verhaltens. Aurelia hatte sich in den Kopf gesetzt, sich den Sitten und Verhaltensweisen dieses Ortes anzupassen und ihre Arbeit ordnungsgemäß zu erledigen. Schließlich war sie Naltar unsagbar dankbar, dass er versuchte ihr zu helfen und ihr ein kurzweiliges Heim bot. Mit einer trotzigen Art und ständigen Fragen würde sie bei ihm kein Land gewinnen und dieses war ihr in der vergangenen Nacht klar geworden. Naltar setzte sich an den Tisch, der mit frischem Brot, Tee und einigen Äpfeln gedeckt war. Freundlich bedankte er sich und fragte: „Bist du dir den Aufgaben bewusst, die du erfüllen musst?“. „Ja natürlich.“, entgegnete Aurelia entrüstet. Der Eindruck, den sie auf ihn anscheinend gemacht hatte, kränkte sie etwas. Das zweite Lächeln, seit sie ihn das erste mal getroffen hatte, huschte über sein faltiges Gesicht. Er versuchte es hinter seinem Bart zu verstecken, doch Aurelia entging so schnell nichts. Schweigend aß er einen Apfel, etwas Brot und trank seinen Tee. Anschließend informierte er sie darüber, dass er Nachforschungen anstellen musste und den Rest des Tages in seinem Arbeitszimmer verbringen würde. Sie sollte sich so lange um alles andere kümmern. An seinem Vorhaben wollte Aurelia ihn natürlich nicht hindern und nickte einvernehmlich. Nachdem er in seinem Zimmer verschwunden und die Türe hinter sich geschlossen hatte, überlegte Aurelia was sie nun tun sollte. Als Erstes verstaute sie die übrig gebliebenen Lebensmittel in einem kleinen Schrank, der sich neben dem Kamin befand. Das Wohnzimmer, so wollte sie den Raum einfach benennen in dem sie aßen und kochten, war stark verschmutzt mit Erde, Spinnweben und Staub. Kurzerhand griff Aurelia nach einem Besen, den sie in einer Ecke des Raumes gefunden hatte und begann ordentlich sauber zu machen. Lange brauchte sie dafür allerdings nicht, denn das Zimmer war kaum größer als 20qm. Nachdem sie den gesamten Schmutz entfernt hatte, machte sie sich daran die Fenster zu reinigen. Als auch diese Arbeit getan war überlegte Aurelia kurz. Sie musste dringend baden und ihre Kleider waschen. Ihr Körpergeruch wurde spührbar unangenehmer und ihre Jeans war mit Erde verdreckt. Zaghaft klopfte sie an die Naltars Zimmertür und wartete. Er bat sie herein und hörte sich Aurelias Anliegen an. „Nimm ein paar saubere Kleider aus meinem Schrank. Folge dem Flusslauf eine Weile richtung Süden und du gelangst an den See, an dem wir gestern vorbei gingen. Dort kannst du dich und deine Kleider waschen.“. Aurelia bedankte sich, griff nach einer wollenen Hose und einem Hemd und ließ Naltar wieder alleine. Er hatte unter einem Fenster auf einer Bank gesessen und war in ein Buch vertieft. Sein Raum war gefüllt von Büchern. Auf dem kleinen Tisch stapelten sie sich zu Hauf, sogar auf und unter seinem Bett, ebenso wie in seinem Kleiderschrank. Aurelia wusste nicht, wie er dort die Antwort auf ihre Fragen finden wollte, aber sie vertraute ihm. Sie ging in ihr Zimmer, nahm die Decke von ihrem Bett und roch daran. Diese sollte ebenfalls unbedingt gewaschen werden, ebenso wie das dünne Kissen. Während sie sich an ihrem Bett zu schaffen machte fiel ihre Handtasche zu Boden. Etwas klirrte laut und als sie die Tasche öffnete fand sie eine zerschellte Weinflasche darin. Der Wein! Plötzlich fiel ihr wieder ein, was sie als Letztes getan hatte. Sie war in einem Supermarkt, um für den Geburtstag ihres Vaters eine Flasche Wein zu besorgen. Nachdem sie bezahlt hatte, lief ihr der gutaussehende, fremde Mann über den Weg, der sie auf eine Tasse Kaffee eingeladen hatte. Dunkel erinnerte sie sich daran, dass sie ihm gefolgt war und plötzlich ein gleißend helles Licht auf ihrem Körper brannte. Sofort klopfte sie erneut an Naltars Tür und platze ohne Abzuwarten herein. „Ich weiß es wieder!“, rief sie aufgeregt. Er bat sie sich zu setzen und ließ sie berichten. Nachdem er ihre Geschichte gehört hatte, fragte er nachdenklich: „Hat dieser Mann dir seinen Namen genannt?“. Aurelia überlegte krampfhaft wie sein Name lautete. Sie wusste, dass er ihn erwähnt hatte, aber er fiel ihr einfach nicht ein. „Edward....Edward irgendwas. Ich weiß es nicht mehr...Edward Hilgram oder so ähnlich.“, murmelte sie. Naltar legte seine Stirn abermals in Falten. Auch ihm war dieser Name nicht bekannt, aber er war sich sicher, dass dieser Mann mit dem seltsamen Schicksal des Mädchens in Verbindung stand. Naltar schickte Aurelia hinaus um nachdenken zu können. Bevor sie sich auf den Weg zum See machte, leerte sie ihre Handtasche auf dem Boden aus. Ihr Telefon war mit Wein durchträngt, schien aber noch zu funktionieren. Vorsichtig wischte sie mit einem Tuch über die Tasten und hoffte so sehr, dass dieses dumme Ding endlich wieder funktionieren würde. Nicht einmal ihrem Vater hatte sie zu seinem Geburtstag gratulieren können. Sicherlich würden sich ihre Eltern und Freunde wahnsinnig Sorgen um sie machen und Aurelia selbst war einfach nur verloren. Ihr Telefon wurde in dem Kleiderschrank verstaut und sie begann den Inhalt ihrer Geldbörse auf dem Fensterbrett über ihrem Bett auszubreiten. Der Ausweis, sowie Führerschein und alle Geldnoten waren mit rotem Wein durchnässt. Hoffnungslos starrte sie auf ihre damalaligen Wertsachen und war den Tränen nahe. Verstehen, was mit ihr passiert war, konnte sie immer noch nicht und es war ihr auch egal, denn sie wollte einfach nur nach Hause. Aber alles jammern half nun einmal nichts und so wischte sie noch die letzten Flecken Wein vom Fußboden auf, packte die Wäsche in einen Korb, schnappte das Stück Seife, dass sie aus Naltas Schrank genommen hatte und machte sich auf den Weg zum See. Während sie dem Flussverlauf folgte, überkam sie unweigerlich ein ungutes Gefühl. Hatte dieser Mann wirklich etwas damit zu tun, dass sie hier gelandet war? Wie sollte sowas möglich sein? Nun gut, sie hatte feststellen müssen, dass es sehr wohl im Bereich des Möglichen lag, aber den Grund verstand sie nicht. Sie hoffte inständig, dass Naltar ihr endlich Antworten geben könnte, die es ihr vielleicht leichter machen würden, die gesamte Situation zu ertragen.

Als Aurelia am See angekommen war, versteckte sie sich hinter einem dicken und hochgewachsenen Busch und sah sich kritisch um. Niemand schien hier zu sein und zögerlich entledigte sie sich ihrer Kleider. Obwohl sie alleine war, stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht. Sie wickelte sich ihre Bettdecke um den Körper und huschte eilig in das, drei Meter vor ihr liegende, Wasser. Sie watete so weit hinein, dass nur noch ihr Kopf aus dem Wasser lugte. Die Wassertemperatur war angenehm war, das Sonnenlicht reflektierte funkelnd auf der Oberfläche und Aurelia spähte noch immer in alle Richtungen. Diesen See würde sicherlich niemand finden. Auf dem Weg zu Naltars Haus war ihnen niemand begegnet und sie hatte keine Dörfer entdeckt, die auch nur in der Nähe lagen. Ab und an raschelte etwas im Unterholz, wobei es sich sicherlich um Hasen oder etwas in dieser Richtung handelte. Der See war umschlossen von Baumreihen, hohen Sträuchern und kleineren Felsen, die meist mit Moos bewachsen waren. Das Wasser an sich war klar und relativ „Fischfrei“, denn Aurelia war kein Freund dieser hässlichen und glitschigen Dinger. Mit der Zeit fühlte sie sich sicherer und begann einige Meter zu schwimmen, tauchte ganz unter und wusch Haare und Körper mit Naltars Seife. Als ihre Fingerkuppen faltig wurden, schwamm sie ans Ufer, wickelte erneut die Wolldecke um ihren Körper, verschwand hinter dem Busch und schlüpfte in die Kleider von Naltar. Anschließend schleppte sie ihre verschmutzte Wäsche ans Seeufer, durchtränkte diese, seifte alles gründlich ein und schrubbte ordentlich um die erdigen Flecken zu entfernen. Nachdem alles einen sauberen Anschein machte, verstaute sie die Kleidung und Bettwäsche in ihrem Korb und machte sich auf den Heimweg. Aurelia musste lachen. „Heimweg“, wie sich dieses Wort in dieser Umgebung anfühlte. Falsch und traurig. Allerdings musste sie diesen Umstand noch eine Weile akzeptieren. Schließlich ging es ihr den Umständen entprechend gut. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und das Bad im See hatte entspannend gewirkt. Es galt einfach nur zu warten, bis Naltar die Lösung ihres Problems gefunden hatte. Am Haus angekommen, spannte sie ein Seil aus Flachs zwischen zwei Bäumen und hängte die nasse Wäsche daran auf. Zufrieden mit ihrem Erfindungsgeist ging sie weiter ihren häuslichen Tätigkeiten nach.

Endlos lange Tage reihten sich aneinander. Gewissenhaft ging Aurelia ihren Aufgaben nach. Sie kochte, putzte, wusch Wäsche und Naltar zeigte ihr, wie man mit einer Axt umging um Feuerholz zu hacken. Sie flickte zerschlissene Kleidung, hielt das kleine Haus in Ordnung und ging jeden Tag zum See um zu baden. Diese eine Stunde am Nachmittag bescherte ihr Momente der inneren Ruhe und Sorglosigkeit. Naltar hingegen verbrachte die meiste Zeit des Tages in seinem Arbeitszimmer und wälzte ein Buch nach dem anderen um Antworten zu finden. Mittlerweile hatte Aurelia aufgehört die Tage zu zählen, aber sie schätzte, dass sicherlich an die drei bis vier Wochen vergangen waren, seit dem sie Naltar das erste Mal begegnet war. Nur selten sprach er mit ihr und wenn, dann nur um sie auf einen Fehler hinzuweisen oder ihr eine neue Aufgabe zu erteilen. Ansonsten hüllte er sich in Schweigen. Ab und an wurde Aurelia von einem Panikgefühl übermannt, dass sie stets versuchte zu unterdrücken. Sie musste ruhig bleiben und warten. Allerdings war diese Ohnmacht schwer zu ertragen. Naltar erwies sich hingegen auch nicht als der Freund, den sie in so einer Situation gebraucht hätte. Weder munterte er sie auf, noch nahm er sie in den Arm, um sie zu trösten. Sie war allein. Die Hausarbeiten waren nicht besonders zeitraubend und so begann sie ein Tagebuch zu führen, in dem sie ihre Gefühle verarbeitete. Naltar hatte es ihr geschenkt. Es machte den Eindruck, als sei es jahrealt und unbenutzt irgendwo herumgelegen. Die Seiten waren vergilbt und der braune, lederne Einband war bereits rissig. Zwar hatte Aurelia nie viel zu berichten, aber es lenkte sie ab, wenn auch nur für kurze Zeit.

An einem der vielen Nachmittage, an denen Aurelia vor dem Haus saß, ihren Gedanken nachhing und in ihr Tagebuch kritzelte, trat Naltar aus dem Haus und nahm neben ihr Platz. Verwundert legte Aurelia ihre Stirn in Falten. Durchdringend blickte er sie an und sagte ruhig: „Ich bin sehr zufrieden mit dir und es ist nun an der Zeit, die einige Fragen zu beantworten. Also höre Mädchen, denn ich werde dir dies nur einmal berichten.“. Aurelias Atem stockte und ihr Herz schlug schneller. Endlich würde etwas Licht ins Dunkel gebracht werden. Naltar räusperte sich und begann zu erzählen:

„Du befindest dich in einem Land, genannt Teredor. Wir schreiben das Jahr 600 nach Whalian. Whalian war einst der Nachkomme eines König, der seinen Sohn die Tugenden von Stärke, Weisheit, Ehre, Vernunft und Nächstenliebe gelehrt hatte. Doch Whalian wollte sich seinem Schicksal nicht beugen und zog mit einigen Gefolgsleuten aus in die Welt, um neue Länder zu erkunden. In den entlegensten Winkeln der Erde traf Prinz Whalian auf ein seltsames Volk. Ihre körperliche Gestalt ähnelte der des Menschen, doch eine besondere Kraft durchfloss ihre Adern. Etwas Magisches lag in ihrem Wesen. Whalians Wissensdurst bewegte ihn dazu, bei diesem Volk, die Belari genannt wurden, zu verweilen. Die Belari nahmen den Prinz in ihre Gemeinschaft auf, boten ihm Unterkunft und nachdem er ihr Vertrauen mehr als verdient hatte, teilten sie all ihr Wissen über die mystischen Dinge mit ihm. Sie lehrten ihn, wie er diese Magie beherrschte und sie nutzen konnte. Die Belari hielten nur an einem Gesetzt fest: Magie diente zum Schutze des Lebens. Doch je mehr Whalian lernte, desto durstiger wurde er nach Macht. Seine Kräfte verdarben sein Wesen und alsbald kam es zum Zwist zwischen Whalian und den Belari. Durch eine List zog er viele Belari auf seine Seite und zusammen mit seinen eigenen Gefolgsleuten überrannte er in tiefster Nacht alle Dörfer der Belari. Er schlachtete das gesamte Volk grausam ab, stahl Schriften und mystische Gegenstände aus den heiligen Stätten ihrer Tempel und in nur einer Nacht löschte er alles aus, was ihm so freundlich Zuflucht geboten hatte. Einige Wenige konnten fliehen und flüchteten in die Berge oder Wälder. Whalians Pläne sahen vor, jeden zu ermorden, der die Magie der Belari beherrschte. Er wollte diese Macht für sich alleine nutzen und einen Kreuzzug gegen die Menschen führen um sich alle Völker zu unterwerfen. Dunkle Jahre voller grausamer Kriege folgten auf diese Nacht. Keine menschliche Armee war Whalians Kräften gewachsen und so unterwarf er ein Volk nach dem anderen. Selbst sein eigenes Volk und seinen Vater streckte er kaltblütig nieder. Bald darauf war er der alleinige Herrscher der bekannten Welt. Nachdem Whalian jahrelang gewütet hatte, beschlossen die Überlebenden der Belari sich den Überbleibseln der Menschen anzuvertrauen und sie ebenfalls in ihre magische Welt einzuweisen, um im Kampf gegen Whalian überhaupt bestehen zu können. Die Menschen und die Belari schlossen sich zu einem immerwährenden Bündnis zusammen, um gegen Whalian gemeinsam in den Krieg zu ziehen und ihn zu besiegen. Vor 600 Jahren hauchte der blutige Prinz Whalian sein Leben aus. Seine Armee wurde zerschlagen und der Krieg endete. Seit jener Zeit lebt das Volk der Belari in friedlicher Vereinigung mit der Menschheit. Ländereien wurden an neu eingesetzte Herrscher vergeben und langsam wurde alles Zerstörte wieder aufgebaut. Die Wunden dieses Krieges waren tief und hielten sich lange.“

Naltar schwieg einen Moment und gedachte der vielen tapferen Frauen und Männer, die ihr Leben gaben, damit Teredor in Freiheit leben konnte. Aurelia sah ihn ungläubig an und in ruhigem Ton sagte er: „Ich bin Naltar von Argumera, Nachkomme der Belari. Das Schicksal hat dich zu mir geführt, junge Aurelia. Es gibt nur einen Weg, auf dem du zu mir gelangen konntest. Irgendjemand, vermutlich ein mächtiger Zauberer, fand die Sternensäule und öffnete das Portal der Himmel, auch wenn ich nicht weiß, wie das geschehen konnte. Dennoch war dies der Grund deines Erscheinens. In meinen Büchern finde ich nicht die Antwort, die ich benötige um dich in deine Heimat zu schicken, deshalb werde ich in wenigen Tagen schon im Morgengrauen nach Aresihl aufbrechen. Dort befindet sich die Bibliothek der Weisen, in der ich alle nötigen Schriften über das Portal der Himmel befinden. Du wirst hier im Haus bleiben, bis ich in einer Woche wiederkehre.“. Naltar klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter, ging in die Hütte und ließ die sprachlose Aurelia alleine. Was hatte der alte Mann ihr da gerade eröffnet? Eine magische Welt voller Zauberer, seltsame Portale, grauenhafte Kriege und wahnsinnige Könige? „Wahrscheinlich versteckt sich hinter dem nächsten Baum eine kleine Elfe mit silbernen Flügelchen.“, höhnte sie leise. Ihr gesunder Menschenverstand tat Naltars Erzählungen als ein Märchen ab, wobei sie in ihrer Situation lieber anfangen sollte, Dinge zu glauben, die ihr Gehirn nicht begreifen konnte. Auf der anderen Seite hatte sie bisher nichts entdecken können, was die Existenz von Magie, oder etwas in dieser Richtung, bestätigt hätte. Aurelia war verwirrt. Nachdem ihre Gedanken sich immerzu im Kreis drehten, beschloss sie dieses Thema schlichtweg zu ignorieren. Naltar würde irgendwo hin gehen, sie hingegen alleine bleiben und auf ihn warten. Den Rest seiner epischen Erzählungen verbannte sie aus ihren Gedanken. Etwas so Unsinniges hätte sie selbst sehen müssen, um ihm glauben zu können. Schließlich zuckte sie mit den Schultern, stand auf und folgte ihm ins Haus, um das Abendessen zuzubereiten, dieses wie immer aus Gemüsesuppe, Fleisch, Brot und Tee bestand.
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