Fantasy ab 16 von Yve

Kapitel 4

Beitragvon Yve » Do 16 Sep, 2010 19:46


Kapitel 4


Noch bevor die Sonne aufgegangen war, verließ Naltar von Argumera sein Haus, verabschiedete sich von Aurelia und ermahnte sie erneut, immer beim Haus zu bleiben. Lächelnd, über seine Sorge, winkte sie ihm zum Abschied und machte sich daran, etwas Tee zu kochen und einen Happen zu essen. Die Tage wurden langsam kürzer und die Sonne warf seltener ihre wärmenden Strahlen auf die Waldlichtung. Der Herbst machte sich bemerkbar und Aurelia sorgte dafür, dass das Feuer im Kamin auch tagsüber brannte. Es regnete immer häufiger und das Wasser in „ihrem“ See wurde zusehens kühler, weshalb sie nur noch jeden zweiten Tag baden ging. Naltar hatte ihr zwar befohlen nicht aus dem Haus zu gehen, aber das Bad im See wollte sie sich dennoch nicht nehmen lassen. Nur weil er nicht anwesend war, musste sie nicht gleich ihre Körperhygiene vernachlässigen. Die einsamen Tage zogen sich unerträglich in die Länge. Immer öfter schlich sie in Naltars Arbeitszimmer, setzte sich auf die kleine Holzbank unter dem Fenster und schmökerte in seinen Büchern. Sie fand Erzählungen, die den seinen glichen, spannende Märchen und Sagen, Geschichten von Liebenden und eine Art Lehrbuch über das magische Handwerk. Als sie in diesem blätterte begann sie leise zu kichern. Es war einfach zu lächerlich. Als ob man etwas aus dem Nichts erschaffen konnte mit nur einem Zauberspruch und einem Tierhaar. Man konnte nichts aus dem Nichts erschaffen. Das war rein physikalisch unmöglich.

Ungedulig saß er am Seeufer und wartete. Seine Gedanken kreisten um die bevorstehenden Ereignisse. Hinter ihm hielten sich zehn seiner Männer versteckt und warteten auf seinen Befehl. Er hätte alleine kommen sollen. Seit dem Tag seiner Ankunft suchte er die kleine Hellhaarige, hatte Blacksand Hill durchforstet und die umliegenden Dörfer, bis er von einer Bauersfrau in Erfahrung gebracht hatte, dass sie mit dem Greis von Argumera gesehen worden war. Dieser Umstand bedeutete ein Problem, wenn auch nur ein geringfügiges. Der Alte war ein solcher Narr! Sicherlich hatte er keine Ahung, was diese Ereignisse zu bedeuten hatten, aber seine Königin musste vorsichtig sein. Falls Naltar ihr doch auf die Schliche gekommen war, musste er selbst nun schnell handeln. Seit zwei Tagen beobachtete er Tag und Nacht die Hütte und die Frau. Naltar hatte sie alleine gelassen. Es war schon fast zu einfach. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als einer seiner Männer ihm ein Zeichen gab und in eine bestimmte Richtung deutete. Die Hellhaarige kam gerade am See an, entkleidete sich und watete ins kühle Wasser. Vorwurfsvoll bedeutete er seinen Männern, nicht hinzusehen. Seine Absichten waren nicht besonders ehrenvoll, aber immerhin wusste er was sich gebührte. Etwas enttäuscht drehten sich die Männer lautlos um, doch er selbst konnte seinen Blick nicht abwenden. Ihre Haut war makellos und milchig, die Rundungen weiblich und weich und sie machte einen zerbrechlichen Eindruck. Das helle und goldschimmernde Haar umhüllte ihren Oberkörper und ihre Bewegungen glichen denen eines elfischen Wesens. Fasziniert von ihrem Anblick, hielt er inne und beobachtete, wie sie im See badete, die vorrüberziehenden Wolken mit Blicken verfolgte und gedankenverloren ihren Körper wusch. Sie wirkte so rein und zierlich, dass er sich für sein Vorhaben fast schämte. Es würde sicher eine Demütigung für die Hellhaarige bedeuten. Er riss den Blick von ihr, stand geräuschlos auf und ging auf die andere Seite des Sees, an der Aurelia hineingewatet war, und verharrte dort, bis sie ihr Bad beendet hatte.

Als Aurelia wieder an das Ufer kam, wickelte sie wie gewohnt eine Decke um ihren Körper, tocknete sich ab und wollte gerade in saubere Kleider schlüpfen, als sich plötzlich eine große Gestalt bedrohlich im Schatten der umstehenden Bauäme aufbaute. „Wer ist da?“, fragte sie verunsichert. „Naltar?“, versucht sie erneut in Erfahrung zu bringen und langsam stieg Panik in ihr auf. „Nein, nicht Naltar.“, raunte eine tiefe Stimme. Die Gestalt kam näher, trat aus dem Schatten und ein Schrei entfuhr Aurelia. „Sie?“, keuchte sie. Ihre grünen Augen blitzten ihn an und er versuchte sie zu packen. Aurelia riss sich jedoch los und rannte so schnell sie konnte davon. Er verfolgte und holte sie schon wenige Meter weiter wieder ein. Erneut griff er nach ihr, schlang seine Arme um sie, während Aurelia mit den Füßen nach ihm trat und brüllte: „Nein, lass mich los!“. Aurelia hatte ihn sofort wieder erkannt. Er war der Fremde, den sie so faszinierend gefunden hatte, als sie ihm das erste mal im Restaurant begegnet war. Als er aus dem Schatten getreten war, hatte sie sofort gewusst, dass er die Schuld an ihrem momentanen Martyrium trug. Außer sich vor Angst und Wut biss sie mit voller Kraft in seinen Arm. Er zuckte kurz zusammen, verstärkte jedoch seinen Griff. Einer seiner Männer wollte ihm mit der strampelnden Frau helfen, doch er gebot ihm Einhalt. „Beruhigt Euch und es wird Euch nichts geschehen.“, flüsterte er in ihr Ohr. Plötzlich wurde es schwarz um ihre Augen und sie verlor das Bewusstein.

Aurelias Kopf dröhnte, ihr Körper schmerzte und eine unangenehme Taubheit lag auf ihren Ohren. Sie vermochte es nicht, sich zu bewegen und hielt die Augen geschlossen. Wieder einmal nahm sie ihre Erinnerungen nur verschwommen wahr. Am Liebsten wäre sie liegengeblieben. Zuerst stolperte sie in eine neue Welt und nun wurde sie auch noch entführt. Der Fremde! Erschrocken schnellte sie in die Senkrechte und war auf alles gefasst. Der Raum, in dem sie sich befand, war jedoch menschenleer. Sie lag auf einem großen und prunkvollen Himmelbett, das mit seidenen Kissen und Decken überladen war. Das Zimmer war vollgestopft mit edlen Sitzgelegenheiten, die allesamt mit Seide bezogen waren. An den Wänden hingen teuer wirkende Ölgemälde und der gesamte Raum war mit geknüpften Teppichen ausgelegt. Licht drang durch hohe Fenster und schmerzte in ihren Augen. Im Kamin gegenüber des Bettes brannte ein Feuer und spendete wohltuende Wärme. Wo war sie nun schon wieder? War sie in Sicherheit oder in Gefahr? Ihre Gedanken kreisten um ihre letzten Erinnerungen, bis ihr klar wurde, dass sie definitiv in Gefahr schwebte. Eilig stand sie auf und wollte das Zimmer verlassen, jedoch gab es keinen Ausgang. Vielleicht befand sich irgendwo eine Art Geheimtür? Aurelia tastete die Wände ab und suchte nach einem Spalt oder Luftzug, der eine solche verraten würde, jedoch erfolglos. Einen Raum ohne Türen konnte es nicht geben! Verzweifelt rannte sie zu einem der Fenster und blickte hinaus. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie nichts weiter sah, als eine graue Wolkendecke, die unter dem Fenster vorrüberzog. Wo zur Hölle war sie? Sie konnte sich unmöglich über den Wolken befinden! Denn wenn dies kein Traum war, standen ihre Chancen auf eine Flucht definitiv bei null. Plötzlich räusperte sich eine Person hinter ihr. Erschrocken fuhr sie auf dem Absatz herum und starrte in stechend blaue Augen. Als er langsam auf die zuging, wirkte seine Gestalt noch furchterregender als am See. Aurelia versuchte ihm auszuweichen, prallte allerdings gegen das Fenster. „Nein! Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich gehen. Ich will nach Hause!“, flehte sie, als ihr klar wurde, dass sie sie ihm hoffnungslos ausgeliefert war. Er hielt inne, setzte zu einer Verbeugung an und stellte sich ruhig vor: „Edward von Lheridar.“. Was sollte dieses Schauspiel? Ihr war egal, wer er war. Sie wollte nur weg von diesem Ort. „Ihr seid zu Hause.“, bemerkte er mit kalter Miene beiläufig. Ungläubig blitzelte sie ihn an: „Was soll das bedeuten?“. „Betrachtet dies als Euer neues Heim. Wie Ihr sicherlich bemerkt habt, ist eine Flucht Eurerseits unmöglich, also freundet Euch mit diesem Gedanken an, hier zu verweilen.“, entgegnete er trocken. „Wenn ich hier gegen meinen Willen festgehalten werde, ist es nicht mein Heim!“, widersprach sie trotzig. Aurelia war auf den schlimmsten Lohn für ihre Antwort gefasst, doch ihr Gegenüber begann zu lachen. Es hätte ihn keinen Wimpernschlag gekostet, ihr das Leben auszupressen, sie zitterte vor Angst und dennoch wehrte sie sich mit Worten, wie ein Raubtier mit seiner Pranke. Dieser Umstand war faszinierend. „Was haben Sie mit mir vor und warum werde ich hier eingeperrt?“, schnautze sie ihn an. Er schwieg kurz und kämpfte gegen seine aufsteigende Wut an. Sie war so lächerlich klein und unbedeutsam und dennoch musste er dieses freche Mundwerk dulden, wenn auch nur für eine Weile. „Ich habe Euch etwas zu essen bereit stellen lassen, anschließend werdet Ihr ein Bad nehmen, Euch angemessen kleiden und dann bei Eurer Königin vorsprechen.“, herrschte er sie an, während er auf ein Tablett wies, dass neben ihrem Bett stand. Er leutete eine Glocke und plötzlich sprühten gleißende, blaue Funken aus der weißen Wand. Es sah fast aus wie eine heiße Schweißnaht, die langsam eine Art Tür formte. In diesem Moment betraten mehrere Frauen durch die leicht schimmernde Öffnung den Raum. Zwei von ihnen schleppten eine Badewanne aus Kupfer herbei, andere Eimer gefüllt mit Wasser und eine weitere Frau, die einen Berg von Kleidern auf das Bett legte. Aurelias Mundwinkelt klappten vor Erstaunen nach unten und argwöhnisch verfolgte sie das Treiben. Der Fremde machte auf dem Absatz kehrt, verließ den Raum und nachdem er durch die Tür gegangen war, verschwanden die Funken und somit auch die Öffnung. Wie wild ging sie auf und ab und ihre Gedanken kreisten. Sie musste unbedingt wieder zurück zu Naltar. Er war sicher schon zu Hause und machte sich Sorgen. Wahrscheinlich hatte er ebenso bereits einen Weg gefunden, wie er sie wieder nach Hause bringen konnte. Aurelia sackte zusammen und das Atmen fiel ihr schwer. Warum passierte ausgerechnet ihr soetwas? Was ihr genau zugestoßen war, konnte sie nicht einmal sich selbt beantworten. Das alles war viel zu viel für sie. Eine der Frauen kam auf Aurelia zu und blickte sie wartend an, während sie sagte: „Das Bad ist bereit, Mylady.“. Geistesabwesend ließ sich Aurelia aufhelfen und auskleiden, setzte sich in die Badewanne und wortlos begannen die Frauen sie zu waschen. In diesem Moment starb jede Hoffnung darauf, nach Hause zu kommen und ihre Familie wieder zu sehen. Unerträgliche Leere breitete sich mit einem Schlag in ihr aus und heiße Tränen brannten auf ihren Wangen. Ihr Kampfgeist verflog von Sekunde zu Sekunde und an dessen Stelle trat Hilflosigkeit im größten Maße. Als Aurelia bitterlich begann zu weinen, schickte eine der Frauen alle anderen aus dem Raum. Nahe an ihrem Ohr flüsterte die Frau aufmunternd: „Nehmt es an und Euch wird nichts geschehen.“. Aurelia war egal, was mit ihr passieren würde. Aus diesem Gebäude zu fliehen war ein Ding der Unmöglichkeit und somit würde sie nicht zu Naltar zurückkehren können, damit dieser sie wieder in ihre Welt bringen konnte. Sie würde nie wieder ihre Eltern sehen und dieses Gefühl war schlimmer als jede Folter. Nach ihrem Bad wurde sie von der Frau in ein Kleid gesteckt, dass aus gelber Seide und mit weißen Perlen bestickt war. Anschließend band sie gelbe Seidenbänder in Aurelias Haar, verflocht alles zu einem Zopf, den sie letztlich nach oben steckte. Zufrieden mit ihrer Arbeit nickte die Frau, lächelte Aurelia erneut aufmunternd an und verließ den Raum. Nach ihrem Verschwinden setzte sich Aurelia auf das große, weiche Bett und starrte auf das Tablett, auf dem sich frisches Obst, eine Art Kuchen und ein Glas gefüllt mit Wasser befand. Im Grunde hatte sie keinen Hunger und so legte sie sich in die prall gefüllten Kissen und starrte an die Decke. „Ihr solltet Euch etwas stärken.“, flüsterte der Fremde mit heißerer Stimme, nachdem er sich erneut in das Zimemr geschlichen hatte. Aurelia regte sich nicht, denn es gab keinen Grund dafür, ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie hasste es jetzt schon, dass er immer lautlos hereinplatzen könnte und auch würde, ohne sich bemerkbar zu machen. Seine anfägliche Wut kochte wieder in ihm hoch und energischer rief er: „Iss!“. „Nein.“, fauchte Aurelia. Plötzlich sprang er neben sie, packte ihre Arme und zog sie in die Senkrechte während er brüllte: „Ihr wärt gut damit beraten, mich als Freund anzusehen und das zu tun, was ich Euch sage.“. Sie funkelte ihn wortlos an, bis er vor Wut schäumte und drohte: „Ihr ahnt nicht, zu was ich fähig bin!“. „Wenn ich nicht wichtig wäre, wäre ich bereits tot.“, stellte Aurelia scharfsinnig fest. Einen kurzen Moment später brach er in schallendes Gelächter aus und versichterte ihr: „Ja, das ist wahr. So kämpferisch Ihr auch sein mögt, Ihr seid mindestens genauso so blauäugig.“. „Meine Augen sind grün.“, platzte es aus ihr heraus. Auf seltsame Weise fand sie es äußerst amüsant ihn zu reizen. Erneut trat ein Ausdruck des Zorns in sein Gesicht und Aurelia sah ein, dass sie vielleicht etwas zu weit gegangen war. „Genug! Folgt mir und lasst Euch gewarnt sein, wenn Ihr es nicht tut, werde ich Euch verschnüren wie einen Sack und selbst tragen müssen.“. Dies wollte Aurelia unter allen Umständen vermeiden. Dieses ungehobelte Gegenüber einzuschätzen fiel ihr schwer und so stand sie auf und folgte ihm durch die Geheimtür.

Hinter der geheimnisvollen Öffnung verbarg sich nichts Außergewöhnliches, zumindest nichts, was Aurelia schockiert hätte. Der lange Korridor wurde von dem warmen Sonnenlicht durchflutet, welches durch die hohen Fenster drang. Die Wände waren mit schönem Stuck verziert und mit Ölgemälden behangen. Die linke Seite des Flures bestand nur aus einer Fensterfassade, während sich an der rechten Seite eine Zimmertür an die nächste reihte. Unter den Fenster zogen Wolkendecken vorüber und Vögel kreisten darüber. Auch wenn Aurelia nicht wusste, wie so etwas möglich sein konnte, so hätte sie das Gefühl über den Wolken zu schweben als äußerst erhebend empfunden, wenn die Lage der Dinge etwas anders gewesen wäre. In kleinen Abständen zueinander standen vielarmige Kerzenleuchter aus Gold und zwischen ihnen zierten hohe Vasen, mit wunderschönen Blumenstäußen gefüllt, den Flur. Rosen, Lilien, Orchideen, Hyazinthen und viele mehr, deren Art Aurelia nicht bestimmen konnte. Der Boden war mit weichem Teppich ausgelegt, der farblich zu den Vorhängen der Fenster abgestimmt war. Dies alles erinnerte stark an ein altes Schloss. Allerdings ein Schloss über den Wolken. Ein Luftschloss. Aurelia fand diesen Gedanken irgendwie lustig und lächelte in sich hinein. Am Ende des langen Korridors folgte sie diesem Edward eine breite Wendeltreppe, aus weißem Mamor, hinab und gelangte in einer großen, runden Halle an. Die weißen Marmorfliesen glänzten edel und an der Decke über ihr befand sich eine große gläserne Kuppel, durch die Tageslicht drang. Von der Kuppel hing ein gigantischer, goldener Kerzenleuchter herab, dessen Arme in der Sonne funkelten. In der Mitte der Halle stand ein großer Spingbrunnen, der mit goldenen Figuren verziert war, die Wasser speiten und auch dieser Raum war mit wunderschönen Blumengestecken überflutet. Äußerst beschäftigte Bedienstete huschten an ihnen vorbei und warfen Aurelia verstohlene Blicke zu. Edward griff nach ihrem Arm und zerrte sie mit sich durch die Halle, stieß eine schwere Flügeltür auf und sie traten in einen großen und ebenso prunkvollen Raum, der eine Art Speisesaal darstellte. Herrisch befahl er: „Verneigt Euch!“. Aurelia durchforstete mit ihrem Blick den Raum, bis sie eine Frau entdeckte, die ein langes, weinrotes Kleid und eine Krone auf ihrem Kopf trug. Widerspenstig machte sie einen ungeschickten Knicks und wartete schweigend. „Bruder! Zügle dein Temperament. Sie ist unser Gast.“, ermahnte ihn die Frau, bei der es sich wohl um die Königin handelte. Der widerwärtige Fremde war also auch noch ein Prinz. Aurelias Vermutung wurde durch die offizielle Vorstellung bestätigt: „Ich bin Seraia von Lheridar, König von Karadin.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Bitte setzt Euch.“. Aurelia nahm auf einem der Stühle platz und beäugte die Königin kritisch. Sie war zweifelsohne wunderschön. Die weichen und schlanken Gesichtszüge wurden von langem, gänzendem und rabenschwarzem Haar umhüllt. Ihre schwarzen Augen begegneten Aurelias Blick und schienen sich in ihren Kopf zu bohren. Langsam kam Seraia auf sie zu, setzte sich ihr gegenüber und bot ihr etwas zu essen an. Aurelia lehnte dankend ab. „Sicherlich fragt Ihr Euch, warum ich Euch hier her bringen ließ.“. Aurelia schnaubte verächtlich und rief: „Entführen ließ, wäre die treffendere Formulierung.“. Der Prinz holte tief Luft und wollte Aurelias Unverschämtheit gerade Einhalt gebieten, doch Seraia hob die Hand und lächelte nur. „Wie es Euch zu formulieren beliebt. Ich erwarte von Euch nur Eines: Mir Rede und Antwort zu stehen, ohne Ausnahme.“. Aurelia zuckte mit den Schultern. Was wusste sie schon? Nichts, wenn man es genau nahm, also konnte sie auch etwas plaudern. Mit dieser Taktik befand sie sich immerhin auf der sicheren Seite. Königin Seraia stellte ihr haufenweise Fragen; Ob sie sich daran erinnern konnte, wie sie in diese Welt geraten war, was ihr Naltar von Argumera erzählt hatte, wo er sich im Moment befand, wie ihr Name lautete und viele weitere. Aurelia versuchte diese so wahrheitsgemäß zu beantworten, wie es ihr nur möglich war. Das Verhör dauerte nur wenige Minuten, bis Königin Seraia sagte: „Nun gut, ich habe genug gehört. Ihr werdet bis auf Weiteres mein Gast sein.“. Aurelia stöhnte enttäuscht und fragte kleinlaut: „Warum?“. Seraias Augen färbten sich plötzlich hellblau und funkelten seltsam: „Eurer Sicherheit wegen.“. Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und verließ den Raum. Nun war Aurelia wieder einmal alleine mit dem leicht zu reizenden Prinz. So gut er auch aussah, so furchtbar war sein Charakter. Aurelia erhob sich, blitzte ihn wütend an und höhnte: „Dann bring mich wieder in mein Gästegefängnis, damit ich endlich alleine sein kann.“. Verachtend fügte sie noch ein: „Mein Prinz.“, hinzu. Er griff grob nach ihrem Arm, zerrte sie mit sich durch die Hallen, die Treppe hinauf, den langen Korridor entlang, bis zu der magischen Tür ihrer Zelle. Unsanft stieß er sie hinein und raunte: „Ihr wollt alleine sein? Euer Wunsch ist mir Befehl.“. Damit schloss er die Tür hinter ihr und Aurelia war endlich alleine. Sie schnaubte verächtlich, setzte sich an eines der vielen Fenster und starrte hinaus.

Naltar von Argumera erreichte sein Haus in den Mittagsstunden und war erleichtert endlich zu Hause zu sein. Nach fast zwei Wochen des intensiven Studiums alter Schriften freute er sich wieder in Gesellschaft der jungen Frau sein zu können. Sein Leben war einsam und obwohl Aurelia von seltsamer Natur war, so genoss er es nicht mehr alleine zu sein. Er hatte sich zwar erst an ihre Anwesenheit gewöhnen müssen, doch sie war erstaunlicher Weise äußerst genügsam, fleißig und höflich. Diese Eigenschaften schätzte Naltar sehr an ihr. Als er sein Haus betrat, stellte er überrascht fest, dass Aurelia nicht anwesend war. Er rief ihren Namen, bekam jedoch keine Antwort. Sicherlich würde sie wieder am See sein. Lächelnd schüttelte er den Kopf. Er hatte ihr verboten das Haus zu verlassen, aber diese kleine Freude eines ausgelassenen Bades wollte er ihr nicht nehmen. Schließlich war ihr Schicksal nicht einfach zu tragen. Er begab sich in sein Gemach und versuchte Ordnung in sein Chaos zu bringen.

Gegen Abend war Aurelia immer noch nicht zu Hause und Naltar begann sich ernsthafte Sorgen zu machen. Er beschloss die junge Frau zu suchen, nahm sich eine Fackel von der Wand, entzündete sie im Kaminfeuer und ging nach draußen. Nachdem er dort nichts Ungewöhnliches entdecken konnte, versuchte er sein Glück auf eine Spur am See. Der See an sich war nicht besonders groß und schon nach kurzer Zeit war er einmal um ihn herum gegangen. Hinter einem hochgewachsenen Busch fand er Aurelias Kleidung. Naltar hob sie auf und seine Gedanken kreisten. Die junge Frau würde nie weglaufen, denn schließlich war er selbst ihre einzige Hoffnung jemals wieder nach Hause zu kommen. Zumindest nahm sie das an. Irgendetwas musste passiert sein. Naltar suchte gründlicher nach Spuren und wenige Meter von dem See entfernt wurde er fündig. Im weichen Erdboden zeichneten sich deutliche Spuren von Pferden ab. Naltar beugte sich nach unten und hielt die Fackel tiefer, um die Abdrücke besser identifizieren zu können. Mit seiner ausgestreckten Hand glitt er über die Hufspuren und zuckte erschrocken zusammen. Dies waren nicht die Abdrücke normaler Reittiere, sondern die der Kriegsreiter von Karadin! Naltar schloss die Augen und versuchte die Ereignisse zu sehen, die sich zugetragen hatten. Verschwommen nahm er die Entführung der jungen Frau wahr. Die Königin von Karadin hatte auf unerklärliche Weise von Aurelias Exsistenz erfahren und sie ausgespührt. Dies war kein gutes Zeichen. Er musste sofort nach Areshil zurück und mit Orinos sprechen!

Zwei Tagesmärsche, durch Täler, Wälder und kleinere Orte, später erklomm Naltar den letzten Hügel, bevor er sein Ziel erreichte. Wie aus dem Nichts tauchte die schöne und zu gleich mächtige Stadt vor ihm auf. Areshil war nie atemberaubender als in den Mittagsstunden des Tages. Sie war umgeben von hohen und dicken Mauern, die aus wunderbarem weißem Marmor gefertigt waren. Die Zinnen der Mauern glänzten golden, ebenso wie die Dächer der Tempelanlagen, die so gewaltig groß waren, dass man sie auch aus weiter Entfernung sah. Die gesamte Stadt strahlte in der Sonne wie ein weißer Schneeball. In jeder Himmelsrichtung ragte ein dicker Rundturm in den Himmel, der ebenfalls mit goldleuchtenden Ziegeln gedeckt war. Im Mittelpunkt der Stadt befand sich ein weiterer Turm, der die anderen in ihrer Höhe überragte, dieser jedoch lediglich eine runde Plattform trug. Areshil bestand nicht nur aus weißem Marmor und Gold, sondern die Menschen die dort lebten waren von edlem Gemüt. Wissen, Forschung, Weisheit und die Lehre der Magie standen über Allem. In Areshil befand sich Bibliothek der Weisen. Diese war die größte und reichste ihrer Art. Alles, was jemals in allen Zeitaltern niedergeschrieben worden war, wurde dort aufbewahrt. Naltar selbst hatte hier die Beherrschung der Magie erlernt und später selbst an andere Schüler weitergegeben. In Areshil gab es die besten Lehrmeister und die klügsten Schüler. Das Leben war friedlich und ruhig. Dies war nicht zuletzt Orinos dem Edlen, Herrscher über Teredor und Areshil, zu verdanken. Er sorgte stets für Bildung und Förderung magischer Fähigkeiten, sowohl für Reichtum als auch für die Sicherheit seiner Bürger. Es war ein Ort der Ruhe und der eigenen Selbstfindung.

Eine mächtige Gestalt erhob sich am Ende des Thronsaals, breitete seine Arme aus und lachte: „Mein alter Freund Naltar von Argumera! Sei mir willkommen. Was führt dich zu mir?“. Naltar trat ihm gegenüber, verbeugte sich untertänigst und flüsterte nahe Orinos Ohr: „Mein König, unerwartete Ereignisse sind von Statten gegangen, die Eure Aufmerksamkeit verlangen. Ich muss dringen mit Euch sprechen...alleine.“. Orinos beäugte seinen Freund neugierig, klatschte in die Hände und gab seinen Dienern damit das Zeichen zu verschwinden. Naltar setzte sich auf einen der vielen Stühle, legte seinen Wanderstock beiseite, wartete bis sie alleine waren und sagte leise: „Jemand hat den Schlüssel der Sternensäule gefunden.“. Orinos zog scharf die Luft ein und setzte sich schockiert, nachdem er das Ausmaß Naltars Worte begriffen hatte. „Wie ist das möglich? Wer hat ihn gefunden?“. „Ich fürchte einer der Karadiner. Ich vermute, ihr Blutprinz Edward. Er öffnete die Portale der Himmel und durch seine grobe Fahrlässigkeit konnte ihm ein Mensch aus einer anderen Welt folgen. Eine Frau. Ich fand sie in Blacksand Hill und nahm sie mit in mein Haus, um sie zu verstecken. Aber Seraia hat sie gefunden und sie holen lassen.“. Orinos nahm die schwere Krone, aus reinem Gold, von seinem Kopf und legte sie in seinen Schoß, während er versuchte Naltars Worte zu begreifen. „Die Königin von Karadin schickte vor einigen Wochen Gesandte zu mir mit dem Gesuch auf ein Bündnis, dieses ich jedoch ablehnte.“, raunte Orinos. Naltar blickte ihn schweigend an und überlegte. „Ich habe die Frau durch ein Versprechen an mich gebunden. Wenn Ihr Euch mit Seraia verbünden würdet, wäre sie gezwungen die Frau an mich auszuliefern, da sie mein Eigentum ist.“, bemerkte Naltar. „Was macht diese Frau so wichtig? Wenn ich auf Seraias Bündnis eingehen würde, wäre Teredor ihr hoffnungslos ausgeliefert. Du weißt das.“, entgegnete Orinos. „Dennoch müssen wir sie daran hindern das Portal für ihre Zwecke zu mißbrauchen und ich befürchte, dass die junge Frau eine wichtige Rolle in Seraias Plänen spielt.“, wiedersprach Naltar. Orinos wusste, dass sein alter Freund wie gewöhnlich Recht hatte. Würde Seraia wirklich etwas planen und dies auch durchsetzen können, hätte dies verheerende Folgen für sie alle. Orinos nickte und rief: „Nun gut. Was schlägst du vor?“.

Seit Tagen tat Aurelia nichts anderes, als an einem der Fenster zu sitzen und den Wolken hinterher zusehen, die unter ihr vorbei zogen. Für jeden einzelnen Tag ritzte sie eine kleine Kerbe in das hölzerne Fensterbrett und zählte acht an der Zahl. Morgens, Mittags und Abends huschte eine Bedienstete in ihr Zimmer und stellte ein Tablett, gefüllt mit Speisen, auf einen der Tische nahe des Kamins. Aurelias Hungergefühl war nicht besonders ausgeprägt und so aß sie nur selten davon. Ab und an wurden ihr ein Bad und saubere Kleidung gegönnt, ansonsten war sie immer alleine. Niemand sprach mit ihr und die Dienerschaft würdigte sie keines Blickes. Je länger sie in dieser komischen Welt verblieb, desto schlimmer wurde es. Ständig traten neue Ereignisse ein, die sie nicht verstehen konnte und auf die sie keine Antwort bekam. Die Einsamkeit wurde von Stunde zu Stunde immer unerträglicher. Noch nie war sie so lange alleine gewesen. An einem der endlos langen Abende saß sie wie gewohnt am Fenster und blickte in den Sonnenuntergang. Plötzlich räusperte sich eine Person hinter ihr und sagte leise: „Ihr solltet etwas essen.“. Aurelia kannte diese Stimme nur zu gut, hielt es aber nicht für nötig ihn eines Blickes zu würdigen und rührte sich nicht. Wortlos ging er zum Kamin und entzündete ein Feuer. Anschließend trat er nahe an sie heran und legte eine Wolldecke um ihre ausgehühlten Schultern. Verwundert über diese freundliche Geste drehte sie ihren Kopf, sah ihn an und wartete. Erneut räusperte er sich und versuchte nett zu klingen: „Ich wollte Euch in aller Form um Vergebung, für mein widerwärtiges Verhalten, bitten.“ Aurelia traute ihren Ohren nicht und konnte nicht widerstehen ihn zu fragen: „Für was? Die Entführung, Grobheiten oder Unhöflichkeiten?“. Einen Moment lang schien er irritiert und nachdenklich zu sein. „Für alles.“, antwortete er mit einem Lächeln. Aurelia nickte unbeeindruckt und lenkte ihren Blick wieder richtung des Horizonts. Schweigend setzte er sich neben sie und sah ebenfalls hinaus. Ab und an warf er ihr einen verstohlenen Blick zu. Ihre Gesichtszüge wirkten weich und zart und ihre Haut war wundervoll. Das einst so streitlustige Funkeln ihrer hellgrünen Augen war jedoch einem Ausdruck der Leere gewichen. Seltsamerweise empfand er Mitgefühl für sie. Zu gerne hätte er sie in seine Arme genommen, sie getröstet und ihr Mut zugesprochen. Aurelia bemerkte seine Blicke und sah ihn fragend an. Zögerlich flüsterte er: „Es gibt Dinge, die ich Euch liebend gerne erklären würde, jedoch steht es mir nicht zu.“. „Wem dann?“, fragte Aurelia und ein kleiner Funken Hoffnung stieg in ihr auf. „Alleine meiner Königin gebührt dieses Recht, aber noch ist es nicht an der Zeit ihre Pläne zu offenbaren.“. Enttäuscht senkte sie ihren Blick. Aurelia überlegte kurz. Sie mochte diesen Edward zwar nicht besonders, aber nach acht Tagen völliger Isolation war ihr jeder Gesprächspartner recht. Sie musste den Besuch und seine Gesprächsbereitschaft ausnutzen, denn weitere Tage alleine würden sie um den Verstand bringen. „Wo bin ich eigentlich?“, fragte sie, um ihn bei Laune zu halten. „In einem Land namens Karadin. Es liegt nicht allzuweit von Teredor entfernt. Wir sind praktisch Nachbarn.“. Aurelia nickte und überlegte, mit welchem Thema sie ihn in ein Gespräch verwickeln könnte, aber ihr fielen nur die Fragen ein, die sie seit Wochen quälten. „Ich weiß, dass du mich in diese Welt gebracht hast. Warum hast du mir das angetan?“, platzte es aus Aurelia heraus, während sie versuchte den dicken, aufsteigenden Kloß in ihrem Halz herunterzuschlucken. Der Prinz sah sie mitleidig an und gestand: „Es tut mir leid, Euch dieses Schicksal zugemutet zu haben, aber es geschah nicht aus Absicht.“. Aurelia schnaubte verächtlich. Ein komischer Prinz, der mit magischen Portalen herumspielte und aus Versehen ihr Leben zerstört hatte. „Ich kann Eure Wut nachempfinden.“, versuchte er sie zu besänftigen. „Von wegen. Ich bin diejenige, die ihre Familie nie wieder sehen wird, weil irgendein dahergelaufener Möchtegernmagier mit Dingen herumspielt, die er nicht beherrscht.“, höhnte Aurelia zornig. Edward sog scharf die Luft ein und versuchte die in ihm aufbrodelnde Wut zu unterdrücken. Er musste gehen, bevor er sich nicht länger beherrschen konnte und vielleicht etwas tat, was er erneut bereuen konnte. Als er sich erhob und gehen wollte, berührte Aurelia ihn sanft an seiner Hand, sah ihn traurig an und flüsterte: „Bitte lass mich nicht wieder alleine.“. Sie mochte den Prinz zwar nicht, aber um nichts in der Welt wollte sie wieder so lange alleine bleiben. Außerdem hatte sie eine freundliche Seite an ihm entdecken können, wenn auch nur für einen Bruchteil einer Sekunde, was sie letzten Endes auch zu ihrer Bitte veranlasst hatte. Mit dieser einen Berührung war seine Wut innerhalb einer Sekunde verraucht. Durchdringend sah er in Aurelias Augen und bemerkte, dass sie mit ihren Tränen rang. Sein Beschützerinstinkt wurde übermächtig und so zog er Aurelia an sich und schloss sie in die Arme. Sein Körper war warm und seine Umarmung spendete ihr Trost, selbst wenn dieser von der falschen Person ausging. Resignierend legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und ließ ihren Tränen freien Lauf. Er bemerkte ihr bitterliches Weinen und schlang seine Arme noch fester um sie, während er mit einer Hand über ihren Kopf strich. Es war ein wunderbares Gefühl wieder in den Arm genommen zu werden. Aurelia fühlte sich geborgen und beschützt, selbst wenn sie das im Grunde nicht war. Für einen Moment jedoch konnte sie vergessen wo sie sich befand und wer ihr Gegenüber war. „Bring mich nach Hause, bitte!“, flehte sie ihn kaum hörbar an. „Ich werde dich wieder nach Hause bringen, irgendwann.“, verprach er flüsternd. Edward wurde sich in diesem Moment bewusst, was er da eigentlich tat. Er löste seine Umarmung und schob Aurelia auf Abstand. Schließlich reichte er ihr ein seidenes Taschentuch aus seiner Brusttasche, räusperte sich und sagte in festem Ton: „Iss etwas und lege dich schlafen.“. Als er sich zum Gehen wandte fragte Aurelia kleinlaut: „Kommst du morgen wieder?“. Edward drehte ihr seinen Rücken zu, ging zur Tür und verharrte kurz. „Ja.“, versicherte er und ging ohne ein weiteres Wort. Seine Antwort hatte sich nicht ehrlich angehört, aber Aurelia hoffte darauf, dass er sein Versprechen einhalten würde. Im Grunde war er an allem Schuld, aber er war auch der Einzige, der mit ihr gesprochen hatte und der wusste, wie er sie nach Hause bringen konnte. Seltsamerweise hellte sich Aurelias Stimmung etwas auf und ihr Hungergefühl kehrte zurück. Sie setzte sich auf eine Couch nahe des Kamins und nahm einen Teller Obst von dem Tablett, das eine Dienerin einige Stunden zuvor dort abgestellt hatte. Während sie beherzt in einen Apfel biss, ließ sie die vergangenen Minuten Revue passieren. Den Prinzen konnte sie im Grunde wirklich nicht ausstehen, aber in diesem einen, fast schon intimen, Moment war er vollkommen anders. Er gab ihr ein Gefühl von Sicherheit und sie hatte sich erschreckenderweise wohl in seinen Armen gefühlt. Aurelia hatte ihn attraktiv gefunden, als sie ihm das erste Mal begegnet war und rein optisch hatte sich daran nichts geändert. Allerdings wirkte er arrogant, war grob und kalt wie ein Klotz, zumindest bis auf diesen einen Augenblick. Wenn er sich nicht gerade so gab, wie sie ihn einschätzte, taugte er durchaus als Gesprächspartner. Nachdem sie das gesamte Obst vertilgt hatte, ging sie zu Bett und ihre Gedanken kreisten ausschließlich um des Prinzen Versprechen, sie nach Hause zu bringen. Nur das Wort „irgendwann“ machte Aurelia Sorgen.

Prinz Edward hatte gelogen. Er erschien weder am nächsten, noch die darauf folgenden Tage. Aurelias Laune war ins Bodenlose gesunken, als ihr klar wurde, dass er nicht mehr kommen würde und sie höchstwahrscheinlich erneut lange Zeit alleine in ihrem Zimmer verbringen musste. Verprechungen einzuhalten schien nicht seine Stärke zu sein und dieser Umstand trug am meisten zu ihrer schlechten Laune bei, denn die Hoffnung schwand zusehens, dass er dieses eine, ihr so wichtige, Versprechen einhalten würde, sie nach Hause zu bringen. Aurelia stellte sich darauf ein, wieder einige Tage warten zu müssen, bis der Prinz erneut nach dem Rechten sah. Im Grunde war es ihr egal, wer ihr Gesellschaft leistete, Hauptsache irgendwer tat es. Überraschenderweise wurde sie dennoch von einer, ihr fremden, Person besucht. Wie gewohnt saß Aurelia an einem der Fenster und starrte hinaus, während sie ihren Gedanken nachhing. Die magischen Funken der Wand schnitten die Öffnung und hindurch trat ein hochgewachsener und gut aussehnder Mann. Seine Gesichtszüge wirkten weich, die kurz gehaltenen Haare waren ordentlich gekämmt und nachdem er das Zimmer betreten hatte, schlug er die Hacken seiner Schuhe zusammen und verbeugte sich höflich. Der Fremde trug eine Art Uniform, darüber einen schwarzen Wappenrock mit einer feurigen Schlange, an seiner Hüfte baumelte eine Scheide in der ein Schwert steckte und in seinen schwarzen Stiefeln steckte ein Dolch. Dennoch wirkte er nicht bedrohlich sondern eher nett. „Gestatten, Lord William Elidar, Oberbefehlshaber der königlichen Armee.“. Aurelia nickte freundlich, blickte ihn aber dennoch wortlos und fragend an. „Ich stehe Euch von nun an stets zu Diensten.“, fuhr er langsam fort. Aurelia wusste noch immer nicht so recht, was das zu bedeuten hatte. Was sollte sie denn mit einem Oberbefehlshaber anfangen? Plötzlich dämmerte es ihr: Dieser Lord wurde als ihr persönlicher Babysitter abgestellt. Aurelia rollte die Augen. Sie saß sowieso nur hier rum, wozu brauchte sie nun auch noch einen Wachhund?! Sicher war das einer der „genialen“ Einfälle des Prinzen. Lord Elidar bemerkte ihr Unverständnis, fragte aber dennoch in einem leicht euphorischen Ton: „Nun Mylady, was gedenkt Ihr heute zu unternehmen?“. Aurelia wurde hellhörig und sie konnte nicht widerstehen zu fragen: „Einen Spaziergang vielleicht?“. Der Lord lächelte freundlich und rief: „Aber natürlich. Der königliche Garten ist um diese Jahreszeit besonders schön.“. Aurelia konnte sich ein lautes Auflachen nicht verkneifen. Zwar mißfiel ihr der Gedanke einen Babysitter an Bord zu haben, aber wie es schien war er auch der Grund dafür, dass sich die Grenzen ihrer Aufenthaltsmöglichkeiten erweitert hatten. Lord Elidar streckte ihr seinen Arm entgegen und fröhlich hakte sie sich ein, während er sie zur Tür hinaus geleitete. Sie schlenderten den langen Korridor entlang, die Treppe hinunter und bogen nach links ab. Nach zwei weiteren Abbiegungen kamen sie an einer schweren und eisenbeschlagenen Flügeltür an, die von zwei bewaffneten Wachmännern gesichtert wurde. Beide salutierten vor dem Lord und öffneten ihm einen Flügel. Nachdem Aurelia durch die Tür getreten war, sog sie scharf die Luft ein. Sie befand sich auf einer Art Balkon, der nur durch ein eher lächerlich wirkendes Geländer gesichert war. Unter ihr zogen die Wolken vorbei und vor ihnen kreiste eine Vogelformation. Die Luft war dünn und das Atmen fiel schwer, dennoch war sie beeindruckt und gespannt, was nun geschehen würde. Wenige Sekunden später fuhr eine Plattform von unten nach oben herauf, hielt vor ihnen und dockte am Balkon an. Auf dieser stand ein Mann, der an einer großen, roten Glaskugel herumspielte, die auf einem steinernen Sockel lag. Lord Elidar zog die leicht irritierte Aurelia mit sich auf die fliegende Scheibe und lächelte ihr aufmunternd zu. Die schwebende Plattform war ebenso wenig gesichert wie der Balkon selbst. Allerdings schwangen kleine bunte Lampions im Wind, die an dem Geländer, an das sich Aurelia ängstlich klammerte, befestigt waren. Der Lord gab dem Mann ein Zeichen und plötzlich schwebte die Plattform in atemberaubenden Tempo durch die Wolkendecke nach unten. Im Grunde war es ein Aufzug, allerdings ohne Zugseile oder dergleichen. Auf Aurelias Ohren lag zwar ein unangenehmer Druck, den sie aber kaum bemerkte, da sie zu fasziniert von dem Gefühl des Fliegens war. „Wie ist das möglich?“, fragte sie staunend. Der Lord lachte kurz auf und antwortete: „Nur eine kleine Fingerzauberei, nichts weiter.“. Aurelia sah seine Antwort nicht als besonders hilfreich an, da sie magischen Dingen noch immer keinen Glauben schenken konnte. Allerdings konnte sie den Trick der schwebenden Fläche auch nicht entdecken und so freute sie sich einfach nur darüber endlich wieder etwas frische Luft schnappen zu können. Zwei Minuten später landeten sie auf der Erdoberfläche, stiegen von der Plattform und standen inmitten eines riesigen Parks. Das Areal war so gigantisch groß, dass man kaum von dem einen bis zum anderen Ende blicken konnte. Das Gelände war mir saftig grünem Gras bewachsen, das einen sehr gepflegten Eindruck machte. Die Luft roch intensiv nach gemähtem Gras und Blumen. Zu ihrer rechten Seite befand sich eine Art Obstgarten. Unzählige Obstbäume reihten sich aneinander, die leuchtende Früchte wie Äpfel, Birnen, Kirschen, Orangen und viele mehr, die sie nicht erkannte, trugen. Zwischen den Bäumen standen elfisch aussehende Steinstatuen, die mit ihren leuchtenden Laternen den Weg weisten. Durch das gesamte Gebiet zogen sich kleine Wege, die aus strahlend weißem Kies geformt waren. Ebenso schlängelten sich kleine Flüsse durch die Wiesen, in denen sich Fische tummelten, deren Schuppen bunt in der Nachmittagssonne glänzten. So weit das Auge reichte erstreckte sich ein Meer aus den exotischsten und wunderschönsten Blumen, die Aurelia je gesehen hatte. Inmitten der herrlichen Beete befanden sich kleine Springbrunnen, deren goldene Figuren Wasser speiten. Hier und da standen kleine Bänke aus weißem Marmor mir silbernen Inschriften, die in einer seltsamen Sprache verfasst waren. Über die Sitzgelegenheiten waren breite, blaue Seidenbänder gespannt, die Schutz vor der Sonne boten und deren Enden im Wind flatterten. Alles in diesem Garten war so wunderschön und erinnerte Aurelia an ein Märchen aus „Tausend und einer Nacht.“. Lord Elidar bemerkte ihr Staunen und sagte fast ehrfürchtig: „Unsere Königin hat einen ausgeprägten Sinn für die Schönheiten der Natur.“. Aurelia verdrehte die Augen und erwähnte beiläufig: „Sie ist nicht meine Königin.“. Da Lord Elidar anscheinend nicht wusste, wie er eine solche Aussage werten sollte, schwieg er und zog Aurelia vorsichtig mit sich. Sie schlenderten gemeinsam einen der vielen Kieswege entlang und die kleinen Steine knirschten unter ihren Schuhen. Einige Meter weiter kam sie an einem überdemensionalen Vogelkäfig an. Aurelia schätze die Höhe, sowie die Breite, etwa auf vier Meter. Der Käfig selbst war aus weißem Holz und bot viel Platz für all die bunten Paradiesvögel, die sich darin tummelten. Aurelia kannte keine einzige der Vorgelarten, dennoch war sie fasziniert von all der Farbenbracht. Plötzlich stieß ihr eine besondere Kreatur ins Auge. Der Vogel leuchtete in verschiedenen Rottönen und loderte wie Feuer, seine Flügelschläge hinterließen gelbliche Wirbel in der Luft und aus seinem Körper züngelten kleine Flammen. Lord Elidar folgte ihrem Blick und erwähnte erklärend: „Die Illianden sind sehr selten leben nur einen Monat. Von dem Moment ihrer Geburt an werden sie von ihrem eigenen inneren Feuer Tag für Tag aufgezehrt, bis sie schließlich einfach zu Asche zerfallen.“. Aurelia hatte tiefes Mitgefühl für dieses Tier. Es war sicherlich furchtbar und schmerzhaft von innen heraus zu verbrennen. Welch einen unfairen Preis musste dieses Geschöpf für seine kurzlebige Schönheit doch bezahlen, aber dennoch hörte sich sein Gesang unbeschwert und föhlich an. Lord Elidar bedeutete Aurelia auf einer Bank Platz zu nehmen, die gegenüber des Vogelkäfigs platziert war und setzte sich schließlich neben sie. Während Aurelia das Illiandendings nicht aus den Augen ließ, fragte sie beiläufig: „Sie sind also Oberbefehlshaber?“. „In der Tat.“, antwortete der Lord kurz angebunden. „Wie kann es sein, dass sich ein Oberbefehlshaber mit einer Gefangenen beschäftigen muss?“. Lord Elidar war sichtlich irritiert von dieser direkten Frage und schwieg einen Moment, bevor er etwas kleinlaut zugab: „Nun ja, der Prinz von Karadin und ich waren uns nicht immer einig.“. Aurelia lachte auf: „Er hat wohl einen eigenartigen Drang zu schrägen Strafmaßnahmen.“. Im Grunde war es nicht witzig. Weder für Lord Elidar, noch für sie, aber diesem Moment der Komik konnte sich selbst der Lord nicht entziehen und so lachte er ebenfalls: „Das ist wahr.“. Aurelia wurde ernster und bohrte nach: „Bezüglich was waren Sie sich nicht einig?“. Lord Elidar rang sichtlich mit sich selbst, sagte aber schließlich nur: „Ich bin in die Ungnade des Königshauses gefallen, da ich einen Befehl mißachtete.“ Aurelia wartete gespannt darauf, dass er fortfuhr, doch vergebens. „Und dafür müssen Sie sich nun mit mir beschäftigen?“, fragte Aurelia. Der Lord schwieg weiterhin und schließlich platzte es aus ihr heraus: „Warum sind Sie dann noch immer Oberbefehlshaber der Armee, wenn Sie doch nur hier mit mir rumsitzen müssen?“. Diese Frage widerrum fiel ihm nicht schwer zu beantworten: „Mein Vater ist ein äußerst mächtiger Verbündeter von Königin Seraia und er möchte mich weiterhin in meinem Amt wissen.“. Aurelia verstand und sagte höhnisch: „Also dann sind Sie zwar offiziell an oberster Stelle, haben aber nichts zu sagen und wenn die Königin einen Sündenbock braucht, hat sie direkt einen an der Hand?!“. Aurelia wurde wütend, weil ihr dieses Szenario nur zu gut in ihre Vorstellung der Charakterzüge des Geschwisterpaares passte. Der Blick des Lords sank zu Boden und kleinlaut gab er zu: „So in etwa verhält es sich.“. „Diese Beiden da sind unmöglich! Wer konnte ihnen nur die Verantwortung für ein Land geben?!“, redete sie sich in Rage. Die Stimmung des Lords hob sich wieder, er lächelte Aurelia dankend an und meinte: „Wie auch immer, wir sollten nichts Schlechtes über unser Königshaus sagen.“. Schnippisch warf sie ein: „Sagen vielleicht nicht, aber denken definitiv.“. Erneut lachte er auf und fragte Aurelia nach den Ereignissen, die sie ins Land Karadin geführt hatten.

Mehrere Stunden brachten Lord William Elidar und Aurelia in dem Garten zu und unterhielten sich angeregt, bis die Dämmerung hereinbrach. Mittlerweile waren beide dazu übergangen sich zu „duzen“, obwohl es William anfangs widerstrebte, da er es nicht als gebührendes Verhalten ansah. Aurelia hingegen betrachtete ihn mittlerweile schon als Freund. Er war ein wirklich lieber und netter Mensch, der sowohl ernsthaft, als auch unglaublich humorvoll sein konnte. William erinnerte sie an ihren besten Freund Dave und daran, wie sehr sie ihre „richtigen“ Freunde vermisste. Aber an diesem Nachmittag mit William fühlte sie sich zum ersten Mal nicht mehr wie eine Fremde oder Gefangene, sondern einfach nur wie sie selbst, die mit einem Freund einen unbeschwerten Nachmittag verbrachte. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, sagte William: „Ich sollte dich wieder in dein Zimmer bringen. Du musst sicher hungrig und müde sein.“. Aurelia nickte, hakte sich in seinen Arm ein und ließ sich zur magischen Plattform bringen. „William?“, fragte sie leise. „Ja?“. „Kommst du mich morgen wieder abholen auf einen Spaziergang?“. Er lächelte und versicherte ihr: „Natürlich. Es war ein schöner Nachmittag.“. Aurelia nickte zustimmend. Nachdem sie im Schloss angekommen waren, begleitete er Aurelia bis zu ihrem Zimmer und verabschiedete sich leichten Fußes: „Bis morgen.“. Aurelia lächelte, ging in ihr Gemach und machte sich über das Abendessen her, dass bereits auf einem der Tische am Kamin stand, in dem ein wärmendes Feuer loderte. Erneut hatte man ihr versprochen am nächsten Tag wieder zu kommen und sie glaubte fest daran, dass Lord William Elidar ein Mensch war, der sein Verprechen hielt.

Aurelia sollte Recht behalten. William kam pünktlich am nächsten Nachmittag und gemeinsam gingen sie erneut in den Schlossgarten, machten einen ausgiebigen Spaziergang, setzten sich wieder auf eine der vielen Bänke und vertieften sich in anregende Gespräche. Er besuchte sie nicht nur an diesem Nachmittag, sondern an jedem einzelnen der darauf folgenden ebenso. Die Tage wurden weiterhin kürzer und kühler, doch Aurelia wollte so viel Zeit wie nur möglich mit William verbringen, da sie sich bei ihm fühlte wie ein normaler Mensch in einer normalen Welt. Sie konnte die Zeit und ihre Umstände vergessen und er brachte sie aufrichtig zum Lachen.

Eines Nachmittags, als William und Aurelia gerade die Ställe besichtigten, tauchte eine Bedienstete hinter ihnen auf und verbeugte sich tief, während sie räusperte, um auf sich aufmerksam zu machen. William drehte sich um und sah sie fragend an. „Mylord, die Königin läd Euch und Lady Aurelia zu dem heutigen Bankett ein.“. William nickte nur und mit einer kleinen Handbewegung bedeutete er dem Mädchen zu gehen. An Aurelia gerichtete meinte er: „Wir sollten gehen und uns angemessen für diesen Anlass kleiden.“. Aurelia hatte zwar keine Ahnung um welches Ereignis es sich genau handelte, aber solange William sie begleiten würde, konnte der Abend nicht so schlimm werden. Wie gewohnt begleitete der Lord Aurelia bis zu ihrem Gemach, verabschiedete sich höflich und versicherte ihr, sie in zwei Stunden erneut abzuholen und zum Bankett zu geleiten. Auf seltsame Art und Weise fühlte es sich fast an, als würde Aurelia ein Date mit William bevorstehen. Nervös stieg sie in die Kupferwanne, die einige Frauen aufgestellt und bereits mit warmen Wasser gefüllt hatten. Eine der Dienerinnen legte mehrere Kleider auf Aurelias Bett, aus diesen sie sich nach ihrem Bad eines auswählte. Es sollte ein waldgrünes Seidenkleid sein, dass mit silbernen Fäden bestickt war. Der Ausschnitt war etwas zu weit für Aurelias Geschmack, ebenso wie der Durchmesser des hölzernen Rockreifs, aber leider war dies das schlichteste Kleid von allen. Aurelia wollte unter keinen Umständen auffallen und die Aufmerksamkeit der Königin oder gar des Prinzen auf sich ziehen. Momentan war sie mit ihrer Situation recht zufrieden, selbst wenn diese alles andere als gut war. Aber sie wollte unbedingt vermeiden, dass sich ihre Lage wieder verschlechterte. Eine Kammerdienerin kämmte Aurelias blondes Haar, band es zu einem langen Zopf und flocht silberne Bänder hinein. Kaum hatte sie ihre Arbeit beendet erschien William, bot Aurelia wie gewohnt seinen Arm, in den sie sich einhängte, und gemeinsam gingen sie nach unten. Die Flügeltür des Speisesaals stand weit offen und fremde Menschen ströhmten hinein, so auch William und Aurelia. Zuerst gingen sie in Richtung des Throns, der sich am Ende des Raumes auf einem kleinen Podest befand, um der Königin die Aufwartung zu machen, die ihr offensichtlich wohl gebührte. Auf dem Thron saß selbstverständlich Königin Seraia, die sich gerade mit ihrem Bruder unterhielt. William und Aurelia verbeugten sich kurz und warteten einen Moment. Die Königin würdigte sie zwar keines Blickes, sagte jedoch höflich: „Willkommen Lord Elidar. Ich freue mich Euch wiederzusehen.“. „Die Freunde ist ganz auf meiner Seite, Majestät. Ich fühle mich geehrt und bedanke mich für Eure Einladung.“, erwiderte William. Aurelia hingegen schwieg und nachdem sich William erhoben hatte, folgte sie ihm in eine etwas abegelegenere Ecke des Saals. So prunkvoll hatte sie diesen Raum nicht in Erinnerung. Unweit des Throns der Königin befand sich ein langer Esstisch, der Platz für circa 22 Gäste bot. Die darauf befindlichen Essgestecke waren aus reinem Gold gefertigt, was Aurelia als ziemlich geschmacklos empfand, aber Stil war eben nichts, was man mit Geld kaufen konnte. Die kristallenen Weingläser hatten einen solch eigenartigen Schliff, dass sie im Schein der Kerzenleuchter, die über ihren Köpfen hingen, funkelten wie reine Diamanten. Die dazugehörigen Stühle des Esstisches waren aus edlem Holz angefertigt, dick gepolstert und mit rotem Samt überzogen worden. Auch dieser Raum war gefüllt von wunderschönen Blumengestecken, ebenso wie der Tisch damit dekoriert. Am anderen Ende des Saals hatte sich eine Art Orchester aufgebaut, das aber noch keine Melodien spielte, sondern damit beschäftigt war, die Instrumente zu stimmen. Um sie herum tummelten sich einige Menschen, die in kleinen Grüppchen beeinander standen und sich angeregt unterhielten, während sie an ihrem Wein nippten. Einige Diener huschten mit goldenen Tabletts durch die Gegend und versorgten die Gäste mit allerlei alkoholischen Getränken. Seltsamerweise erinnerte dieses Szenario Aurelia an ihren letzten Abend in der ihr bekannten und so geliebten Welt mit ihren Freunden. „Ist sie immer so?“, fragte Aurelia auf die Königin deutend. „Nein, nicht immer, aber meistens.“, scherzte William, während der Schalk in seinem Nacken saß. William war in den letzten Tagen stark aufgetaut ihr gegenüber. Durch die vielen Gespräche, die sie jeden Tag miteinander führten und die Offenheit mit der sie sich begegneten, hatte sich ein starkes Gefühl der Freunschaft zwischen ihnen entwickelt. Aurelia begann zu lachen, hörte jedoch abrupt auf, als ein ziemlich schlecht gelaunt aussehender Prinz auf sie zu ging. Mit gespielter Freundlichkeit heuchelte er: „Lord Elidar, ich freue mich über Euer Erscheinen.“. An Aurelia gerichtet und in wesentlich garstigerem Ton sagte er: „Wie ich sehe, hat Euch Lord Elidar gelehrt, Euch gebührend bei Hof zu benehmen. Gut gemacht, mein alter Freund. Ich hätte nicht geglaubt heute Abend eine Dame anzutreffen.“. In Aurelia stieg leichte Streitlust auf und so antwortete sie schnippisch: „Nun, ich benehme mich wesentlich besser, wenn ich mich in angenehmer Gesellschaft befinde.“. Sie lächelte höflich und kam nicht umhin noch etwas nachzulegen, indem sie sich in Williams Arm einhängte und sich leicht an ihn schmiegte. Die Gesichtszüge des Prinzen verhärteten sich zusehens und für einen kurzen Moment wusste er nicht, was er dazu sagen sollte. Mit einer solchen Schlagfertigkeit hatte er nicht gerechnet, denn am Abend vor etwa einer Woche hatte Aurelia noch so zerbrechlich und traurig gewirkt, wovon in diesem Moment nichts mehr zu spüren war. Verärgert trat er dicht an Aurelia heran und flüsterte in drohendem Ton in ihr Ohr: „Wie ich sehe, geht es dir nun sehr viel besser. Ich rate dir mich nicht zu verärgern, denn sonst wirst du deine Zeit mit mir verbringen müssen und nicht mit dem edelmütigen Lord Elidar.“. Angesichts seiner Drohung wollte sie ihm ordentlich Kontra geben, obwohl sie wusste, dass dies keine besonders gute Idee war, aber sie konnte sich einfach nicht beherrschen. Ihre Lippen berührten fast sein Ohr, als sie herausfordernd hauchte: „Wer weiß? Wärst du nicht ein so abscheulicher Mensch würde ich meine kostbare Zeit vielleicht auch mit dir verbringen.“. Im Grunde eigentlich nicht, aber der Prinz würde sowieso nicht näher darauf eingehen. Zumindest hoffte sie das. Zwar hatte sie etwas Freundliches in ihm entdeckt, aber im Moment zog sie definitiv William als Gesellschafter vor. Aurelia hörte Edwards Zähne knirschen und wusste sofort, dass sie zu weit gegangen war. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie konnte beim besten Willen nicht erraten, was der Prinz nun tun würde. Plötzlich schlug ein Kammerdiener mit einem langen Stab auf den Boden und die Musiker begannen zu spielen. Edward trat etwas nach hinten und lächelte förmlich, während er sich an William wandte: „Ihr habt doch sicherlich nichts dagegen einzuwenden, wenn ich Euch Lady Aurelia für den ersten Tanz des Abends entführe?!“. William schüttelte schweigend den Kopf. Edward griff nach Aurelias Hand, zog sie grob mit sich und flüsterte: „Vielleicht bin ich kein Mensch.“. Diese Aussage war mehr als irritierend, obwohl die Bezeichnung „Tier“ auch sehr treffend für ihn war. Als er mit dem Tanz beginnen wollte, blieb Aurelia wie angewurzelt stehen. Etwas beschämt sagte sie: „Ich kann nicht tanzen. Zumindest nicht diese Tänze.“. Daraufhin fragte er belustigt: „Lady Aurelia ist plötzlich so kleinlaut wenn es um einen Tanz geht?“. Nun gut, diesen Schuh musste sie sich anziehen und den Spott über sich ergehen lassen. „Ich werde es dir zeigen. Es ist ganz einfach.“. Edward schlang seinen Arm um ihre Hüfte, zog sie an sich und führte sie mit festem Griff über die Tanzfläche. Seine Wut war wohl verraucht und weitere schöne Tage mit William schienen Aurelia sicher zu sein. Schon nach kurzer Zeit hatte sie das Schema des Tanzes durchschaut und wurde leichtfüßiger. Während sie immerzu auf ihre Füße starrte um zu vermeiden, dass sie dem Prinz auf die Zehen trat, haftete dagegen Edwards Blick auf ihrem Gesicht. „Ihr seht schön aus.“, knurrte er widerspenstig. Überrascht ein Kompliment des garstigen Prinzen zu bekommen, blickte sie ihm in die Augen und bedankte sich mit einem Nicken. Die Tage mit William schienen ihr gut bekommen zu sein, denn das Funkeln ihrer grünen Augen kehrte langsam zurück und Edward konnte nichts daran ändern, dass ihm dieser Gedanke sehr missfiel. Nachdem das Orchester eine neue Melodie anspielte, tauchte William hinter dem Prinzen auf und sagte: „Da Euch die Ehre des ersten Tanzes gebührte, fordere ich nun den Zweiten von meiner Gesellschafterin ein, sofern Ihr nichts dagegen habt.“. Edward riss seinen Blick von Aurelias makellos schönem Gesicht, sah William irritiert an und räusperte sich: „Natürlich nicht. Aber achtet auf Eure Zehen, William. Sie ist nicht besonders geschickt.“. Aurelia konnte nicht fassen was sie hörte und trat nun mit voller Absicht und Wucht auf seinen Fuß. Prinz Edward ignorierte diesen Akt der Rache jedoch völlig, überreichte William Aurelias Hand und setzte sich an eines der Tischenden. William wollte gerade mit dem Tanz beginnen, als das Orchester aprubt aufhörte zu spielen und eine Tür geöffnet wurde. Durch diese traten eine ganze Reihe von Dienern, die große silberne Tabletts trugen, auf denen die unterschiedlichsten und wunderbar riechensten Speisen serviert waren. Nachdem die Gerichte aufgetischt worden waren rief der Kammerdiener zum Essen und die anwesenden Gäste setzten sich auf die ihnen zugeteilten Plätze. Aurelia saß natürlich ausgerechnet zwischen Prinz Edward und Lord William und sie wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass der Prinz sie ernsthaft reizen wollte, denn das ganze Dinner über verteilte er verbal garstige Seitenhiebe gegenüber Aurelia. Die meiste Zeit jedoch interessierte sich niemand für die Äußerungen des Prinzen, bis auf William, der Aurelia mitleidig ansah. Unterhalb des Tisches nahm William Aurelias Hand in die seine und drückte diese beschwichtigend. Diese Geste entging dem immer finsterer blickenden Prinzen nicht. Nach etwa einer halben Stunde voller Gemeinheiten rief Aurelia wutentbrannt an Edward gerichtet: „Womit habe ich es verdient, dass du mich so schlecht behandelst?“. Alle Gäste verstummten, drehten sich aufmerksam in Aurelias Richtung und lauschten gespannt. Edward stand auf, schlug auf den Tisch und brüllte: „Weil du meine Gefangene bist und nur aus Freundlichkeit wie ein Gast behandelt wirst. Wie kannst du es wagen so mit deinem Prinzen zu sprechen?!“. Aurelia gab nichts auf den Prinz, aber vor allen Anwesenden so schrecklich gedemütigt zu werden, trieb ihr Tränen in die Augen, obwohl sie dagegen ankämpfte. In diesem Moment zu weinen wäre noch grausamer gewesen und so schrie sie zurück: „Dann gib mir doch einfach einen Strick, damit wir es hinter uns haben!“. Wutentbrannt stand sie auf und flüchtete aus dem Saal, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Dort ließ sie sich auf ihr Bett fallen, vergrub das Gesicht in den seidenen Kissen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie wollte nur nach Hause! Sie hatte es nicht verdient, so schlecht behandelt zu werden, denn es war nicht ihre Schuld, dass sie hier festsaß sondern seine. Seine allein!

„Aurelia...“.
Yve
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