Die Gewinnertexte des Wettbewerbes "Prosa des Monats" werden hierher verschoben

Verfinsterung

Beitragvon apnoe » Fr 03 Okt, 2008 17:25


Magdalena erzählt mir in der Mittagspause, dass ihr Bruder seit zwei Wochen im Koma liegt, weil er einen Autounfall hatte. Er war allein. Niemand weiß, was geschehen ist. Eine Hausmauer hat seine Fahrt und die hohe Geschwindigkeit beinahe sein Leben beendet. Sie weint, als sie von zweifacher Wiederbelebung, Gehirnblutungen und Rückenmarksquetschung berichtet. Ich frage mich, ob es nicht auch etwas Gutes hat, sich an nichts mehr erinnern zu müssen.

Ich steige ins Auto und denke daran, wie wichtig es ist aufzupassen, wenn man unterwegs ist und achte darauf, dass beide Kinder angeschnallt sind, sogar auf der kurzen Strecke. Oder gerade auf dieser. Der Teufel schläft nie, hast du immer gesagt, und du musst es ja schließlich wissen. Du bist ein Teil meiner Dunkelheit.

Gleich das erste Kind abliefern, küssen, Tschüs Liebes, bis nachher, Tür zu…und der Rucksack und der Roßschwanz wippen über dem bestickten Jeanspopo. Meine Tochter ist groß geworden seit damals. Einmal noch umdrehen. Winken.

Und weiter. Es ist nass und dämmrig. Herbst.

Mein Sohn muss jetzt noch zum Training. Aus der Seitenstraße rast ein grauer Mercedes auf die Vorrangstraße zu, auf der ich mich befinde. Der Fahrer schaut an der Einmündung nach rechts, obwohl das die Richtung ist, aus der gar keine Autos kommen können. Ich bremse vorsichtshalber. Er fährt mir trotzdem unvermutet vor die Räder. Ich hupe und muss reifenquietschend mitten auf der Straße stehen bleiben, um den Zusammenstoß zu verhindern. Der Mann deutet mir Gleichgültigkeit und schneidet quer auf die Gegenfahrbahn hinüber. Zittern. Herzklopfen. Mein Sohn schimpft. Eine Schulkollegin hatte an dieser Kreuzung vor Jahren einen schweren Autounfall. Ich denke an die Folgen für meinen Sohn, wenn dessen Seite gerammt worden wäre, so wie ihre damals. Schnittwunden im Gesicht, Beckenbruch, Nierenquetschung, Oberschenkelknochen zertrümmert, Gehirnerschütterung.

Es ist nicht einfach, an das unterbrochene Gespräch anzuknüpfen. Ernst war das Thema auch vorhin schon und noch ein wenig ernster ist es jetzt. Ich versuche ein anderes. Mein Sohn schweigt. Was er jetzt denkt, ist die Frage, ich möchte es aber nicht wissen. Manchmal tut etwas viel zu weh, um es auszusprechen und noch mehr es zu hören. Er dreht meine Musik an, wippt im Takt und lacht leise und anerkennend, weil seine Mutter so was hören mag.
Mein Sohn ist jetzt fünfzehn. Wie alt werden wir?

Wir sind da. Küsschen, Großer. Er steigt aus, vordere Tür zu. Hintere Tür auf, ein paar Zentimeter davonfahren, wie immer das rituelle Grinsen dafür ernten:Ja, ja, Mama. Bis dann! Ein Griff nach innen zur Tasche, Tür schlägt zu.
Er federt mit langen Schritten den Weg entlang, versickert unmerklich im Finstern des langen Korridors.

Ich sehe ihm nach, muss los.
Neben mir mündet eine andere Straße ein. Wenn der Nächste die Stopptafel nicht beachtet, dann…ich denke noch viel weiter, denn auch in mir ist das Dunkel. Das Straßennetz zieht mich unmerklich nach Hause mit. Das Auto kennt die Strecke.
Plötzlich biegt ein grüner Chrysler, ohne zu blinken, vor mir nach links ab. Bremsen, quietschend stehenbleiben, die zweite Gelegenheit. Der Lenker starrt mir erschrocken in die Augen. Dann fahren wir weiter.

Ich überlege, was Glück bedeutet und wie schnell unser Leben zu Ende sein kann. Den Gedanken, gegen welche Wand ich warum irrtümlich rasen könnte, drücke ich für heute beiseite. Er lenkt mich vom Autofahren ab.
es gibt augenblicke, in denen eine rose wichtiger ist als ein stück brot. (rilke)
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Re: Verfinsterung

Beitragvon apnoe » Sa 04 Okt, 2008 07:45


danke sim,
ich habe mir deine vorschläge zu herzen, zu worte, zu text genommen und so adaptiert, dass ich mich mit der geschichte gut/ noch besser identifizieren kann.
das, was dir nicht gefallen hat, waren auch die stellen, die mich beim schreiben mehrfach beschäftigt haben.
deine rückmeldung war die bestätigung: also doch nochmal anders.
danke
lieben gruß
a
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Re: Verfinsterung

Beitragvon apnoe » Mi 08 Okt, 2008 22:20


ja, kann ich.:)
ich hab mich schon gewundert , dass du davon nix gesagt hast..
(ich hab gehofft, es fällt niemandem auf!)
lg a
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Re: Verfinsterung

Beitragvon blaue_Raupe » Mo 24 Nov, 2008 17:51


Als Siegertext des Monats Oktober aus der Tretmühle hierher verschoben.
you cannot unscramble scrambled eggs.[links:3fqyydm7][/links:3fqyydm7]
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