Die Gewinnertexte des Wettbewerbes "Prosa des Monats" werden hierher verschoben

Aussicht auf Heilung

Beitragvon Ruelfig » Di 30 Sep, 2008 17:23


21.09.2009
Ich habe endlich einen Platz zugewiesen bekommen im Sanatorium Shangri La. Hier wird nach den modernsten Methoden ganzheitlich therapiert, unter Einbeziehung sämtlicher spiritueller und medizinischer Erkenntnisse aller Zeiten und Völker, Schulmedizin ausgenommen. Davon habe ich aber auch genug, ich nenne jeden Arzt der Stadt beim Vornamen und keiner hat mir jemals ansatzweise helfen können. Jetzt aber gehe ich auf die Suche nach meinem inneren Großvater, damit er mir verzeihen kann. Dann endlich werde ich mich selbst wahrnehmen können. Noch kann ich mich nicht im Spiegel sehen, so weit bin ich von mir entfernt.
22.09.2009
Angekommen. Das Haus liegt in einer Traumlandschaft, Hügel reiht sich an Hügel, von Buchenmischwäldern bedeckt. In silberklaren Seen schwimmen Forellen, Vogelsang erklingt, die Luft schmeckt frisch und herbstlich. Mein Zimmer ist ein wenig klein und liegt an einem Innenhof. Es hat kein Fenster, der Türsturz ist niedrig, damit ich Demut lerne. Eine Tür gibt es nicht, wir wollen uns öffnen, erklärt Dieter, mein Betreuer. Keine Möbel, der Boden, auf dem ich schlafen werde, besteht aus Kopfsteinpflaster, damit mein Körper sich wieder spürt. Die Wandfarbe sei essbar, wird mir versichert, mit einem schalkhaften Glitzern im Auge. Ich bekomme eine Robe aus grauem Nesselstoff, der Kopf wird rasiert, um der Eitelkeit zu entkommen. Die nächsten zwei Wochen werde ich weder baden noch duschen, um meinen Eigenduft zu finden. Zum Abendessen gibt es Sandelholzplätzchen, Salat und Jahrgangsurin. Wir dürfen alles essen, was sich selber anbietet, doch auch nach längerer Diskussion will sich eine Tomate nicht hergeben. Hungrig liege ich auf dem Boden unter einer Decke aus Stroh und schreibe im Dunklen. Morgen beginnen die Anwendungen.
23.09.2009
Um vier Uhr gibt es Frühstück (Sauerampfer mit Patchouli, so begierig, verspeist zu werden, dass es sich mir geradezu in den Mund drängt), von fünf bis dreizehn Uhr Selbstverwirklichung in Arbeit. Wir sitzen an langen Tischen und drehen Räucherstäbchen. Jetzt weiß ich, wie Geist und Körper im Einklang schwingen können, wenn man sich ganz hingibt. Nach dem Mittagessen (Graswurzelgeschnetzeltes) Einzelsitzung mit Dieter. Wir setzen uns Schwitzhüte auf und ich bekomme mein Mantra, das ich keinem verraten darf, weil es sonst seine Energie verliert. Ich summe es immerzu: "You can't run away from yourself". Nach dem Abendessen (Lichtsuppe) gemeinsames reenactment einer LSD-Sitzung. Thomas, ein anderer spiritueller Führer, stellt Timothy Leary nach und rezitiert solange aus dem Tibetanischen Totenbuch, bis alle freiwillig eine Nahtoderfahrung haben.
24.09.2009
Nach dem Frühstück (Mondbrei) versuche ich zu fliehen, werde jedoch von der Lovepolice aufgehalten. Man umringt mich und bestrahlt mich mit Liebe, bis ich schließlich wieder Räucherstäbchen drehe. Nach dem Mittagessen (Seelenmousse) Gruppensitzung: wir massieren uns gegenseitig Falten ins Gesicht, um das Altern zu akzeptieren. Nur mit einer solchen Haltung lässt es sich biologisch korrekt leben, erklärt Dieter. Ich fürchte, ich bin noch weit entfernt von meinem inneren Großvater. Nach dem Abendessen (Monatsblutsuppe) warten wir auf den Mondaufgang. Wir sitzen auf einer Lichtung, jaulen und heulen. Ich habe ernste Visionen von goldenen Lettern, die über den Nachthimmel schweben. Leider kann ich nichts lesen, es scheint sich um ein fremdes Alphabet zu handeln. Ich träume von Dampfloks, die bonbonfarbenen Rauch ausstoßen, den ich einatme.
25.09.2009
Nach dem Frühstück (Energiebrötchen) ist mir schlecht. Dieter findet, dass dies ein gutes Zeichen sei und bringt mich zur Arbeitstherapie in den Zauberkräutergarten. Nach längerem Gespräch mit einer Datura erneut Gesichte. Weit entfernt, am Horizont, sehe ich einen uralten Mann in weißem Gewand, der, auf einen knotigen Stock gestützt, auf mich zukommt und sich dabei immer mehr entfernt. Nach dem Mittagessen (Knoblauch in Tigerbalm) Mentaltantrischer Sex mit Gisela, einer korpulenten Rheinländerin mit vielen interessanten Falten. Ich habe geistige Erektionsstörungen. Um die Spannungen zu lösen, wird mir Spießrutenlaufen verschrieben. Meine Mitpatienten stellen sich in einer langen Reihe auf, an der ich entlanglaufe und dabei mit gekochtem Rosenkohl beworfen werde. Ich hasse Rosenkohl. Durch die Intensität der Erfahrung bekomme ich eine mentale Dauerlatte. Nach dem Abendessen (Rosenkohl) gemeinsames Sternsingen. Langsam beginne ich, mich in meiner Zelle wohl zu fühlen.
30.09.2006
Ich habe heute einen Antrag an die Krankenkasse geschrieben, noch weitere vier Wochen in Behandlung bleiben zu dürfen. Dieter und Thomas meinen, ich sei ein selten harter Knochen, der erst in feinste Atome gespalten werden müsse, um dann als ganzer Mensch neu zu entstehen. Heute Abend werde ich Gisela wiedersehen, wir wollen versuchen, ein Lichtwesen zu zeugen.
Endlich Nichtdichter
Benutzeravatar
Ruelfig
Altling
Urgestein
 
Beiträge: 1100
Registriert: Sa 13 Sep, 2008 23:06
Eigene Werke
 

Re: Aussicht auf Heilung

Beitragvon apnoe » Di 30 Sep, 2008 22:34


g* als erstes.
dann lauthals losgebrüllt.:D
ach, herrje, das ist ein schöner platz, den du dir für die zeugung des lichtwesens (cheyenne, britney, moses???) ausgesucht hast.
(sex auf krankenschein hilft bei der suche nach den ahnen? cool...)
ich habe deine wahren oder auch satirischen texte schon lange gemocht. den finde ich aber speziell lustig.
denn er ist noch ein bisschen wahrer als die anderen. von a- z.
die sympathie hängt wohl noch mit der nah-humor-erfahrung, den positiven schwingungen nackter kopfhäute im wind samt rucksack und einer seitan-bratwurst als gemeinschaftserlebnis zusammen.
lieben gruß
es gibt augenblicke, in denen eine rose wichtiger ist als ein stück brot. (rilke)
apnoe
Etabliert
Etabliert
 
Beiträge: 385
Registriert: Sa 13 Sep, 2008 19:24
Eigene Werke
 

Re: Aussicht auf Heilung

Beitragvon Ruelfig » Mi 01 Okt, 2008 19:14


Schön, dass es dir gefällt. Ein wenig ist der Text auch den Gesprächen beim Forentreffen zu verdanken, den dort angerissenen Themen. Ich hatte in den letzten Monaten eine Blockade bei Geschichten und jetzt, paff, isse weg.
Danke dir für die positiven Schwingungen, Grüße aus dem Zentrum der Pyramide,
R
Endlich Nichtdichter
Benutzeravatar
Ruelfig
Altling
Urgestein
 
Beiträge: 1100
Registriert: Sa 13 Sep, 2008 23:06
Eigene Werke
 

Re: Aussicht auf Heilung

Beitragvon Pegamund » Do 02 Okt, 2008 09:32


heia ruelfig, mir hat dein text spaß gemacht.

ich finde, das ist sauber und sorgfältig geschrieben, auch stilistisch konsequent durchgeführt - eher knapp und unprätentiös, im "notizen-stil" gehalten, die einfälle zur charakterisierung des heilungslagerlebens und die anreicherung mit details (z.b. die wiedergabe des täglichen speisezettels) sind stimmig. die tagebuchform zu wählen, bringt spannung rein und gibt dem ganzen genau den richtigen schlag "authentizität". auch der plotbogen ist gut gespannt, zarter einstieg, volle entfaltung, verlängerung des aufenthaltes, open end mit be-happy-with-Gisela-option.

wenn das forentreffen so blockadelösend nachschwingt, dann sollte man's wohl öfter machen - und ich sollt auch dabei sein. vielleicht geht mir dann endlich mein drittes auge auf und ich find meinen inneren bleistift oderso ...

liebe grüße, Peganovizina.
Pegamund
Poesiebomberpilotin
Etabliert
 
Beiträge: 167
Registriert: Mi 17 Sep, 2008 20:44
Eigene Werke
 

Re: Aussicht auf Heilung

Beitragvon Ruelfig » Do 02 Okt, 2008 10:34


Hola Pegamunda,
danke für deine Antwort. Ich wünsche dir viel Glück bei der Suche nach deinem "Inneren Bleistift" :D .
Und natürlich bist du beim nächsten Treffen dabei! Verstanden?
Ok, man sieht sich.
LG,
TranszendenzR
Endlich Nichtdichter
Benutzeravatar
Ruelfig
Altling
Urgestein
 
Beiträge: 1100
Registriert: Sa 13 Sep, 2008 23:06
Eigene Werke
 

Re: Aussicht auf Heilung

Beitragvon Garfield » Do 09 Okt, 2008 22:15


Moin Ruelfig

Dein Text hat mir sehr gefallen, er steigert sich von "zum Schmunzeln" bis hin zum :lach:
Mentaltantrischer Sex mit geistiger Erektionsstörung ist schon ne interessante Sache XD
Ich finde der Text ist eine schöne Satire auf übersteigerte Vertrauen in spirituelle Heilung und ähnliches.
Sprachlich hast du einen guten Stil, passend zum Inhalt, ich konnte auch keine Fehler ausmachen.

Gruß Garfield
Kurz, er bewies eine Geduld, vor der die hölzern-gleichmütige Geduld des Deutschen, die ja auf dessen langsamer, träger Blutzirkulation beruht, einfach gar nichts ist.
Gogol - Die Toten Seelen
Benutzeravatar
Garfield
Graf Lied
Urgestein
 
Beiträge: 1671
Registriert: Sa 25 Sep, 2010 19:09
Wohnort: Berlin
Eigene Werke
 

Re: Aussicht auf Heilung

Beitragvon Ruelfig » Sa 11 Okt, 2008 23:07


Hallo Garfield, danke fürs Streicheln, ich schnurre =) . Wenn es dich lachen machen konnte, ist mein Auftrag erfüllt.
LG,
R
Endlich Nichtdichter
Benutzeravatar
Ruelfig
Altling
Urgestein
 
Beiträge: 1100
Registriert: Sa 13 Sep, 2008 23:06
Eigene Werke
 

Re: Aussicht auf Heilung

Beitragvon blaue_Raupe » Mo 20 Okt, 2008 17:31


Als Siegertext des Septembers aus der Spaßvogelfraktion hierher verschoben.
you cannot unscramble scrambled eggs.[links:3fqyydm7][/links:3fqyydm7]
blaue_Raupe
Etabliert
Etabliert
 
Beiträge: 382
Registriert: Mi 10 Sep, 2008 23:16
Eigene Werke
 

Re: Aussicht auf Heilung

Beitragvon apnoe » Mo 20 Okt, 2008 17:37


ich bin eindeutig bis jetzt im falschen quartier gelandet..ich gratuliere andernorts!
lg a
es gibt augenblicke, in denen eine rose wichtiger ist als ein stück brot. (rilke)
apnoe
Etabliert
Etabliert
 
Beiträge: 385
Registriert: Sa 13 Sep, 2008 19:24
Eigene Werke
 

Zurück zu Prosa des Monats

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 8 Gäste

cron