21.09.2009
Ich habe endlich einen Platz zugewiesen bekommen im Sanatorium Shangri La. Hier wird nach den modernsten Methoden ganzheitlich therapiert, unter Einbeziehung sämtlicher spiritueller und medizinischer Erkenntnisse aller Zeiten und Völker, Schulmedizin ausgenommen. Davon habe ich aber auch genug, ich nenne jeden Arzt der Stadt beim Vornamen und keiner hat mir jemals ansatzweise helfen können. Jetzt aber gehe ich auf die Suche nach meinem inneren Großvater, damit er mir verzeihen kann. Dann endlich werde ich mich selbst wahrnehmen können. Noch kann ich mich nicht im Spiegel sehen, so weit bin ich von mir entfernt.
22.09.2009
Angekommen. Das Haus liegt in einer Traumlandschaft, Hügel reiht sich an Hügel, von Buchenmischwäldern bedeckt. In silberklaren Seen schwimmen Forellen, Vogelsang erklingt, die Luft schmeckt frisch und herbstlich. Mein Zimmer ist ein wenig klein und liegt an einem Innenhof. Es hat kein Fenster, der Türsturz ist niedrig, damit ich Demut lerne. Eine Tür gibt es nicht, wir wollen uns öffnen, erklärt Dieter, mein Betreuer. Keine Möbel, der Boden, auf dem ich schlafen werde, besteht aus Kopfsteinpflaster, damit mein Körper sich wieder spürt. Die Wandfarbe sei essbar, wird mir versichert, mit einem schalkhaften Glitzern im Auge. Ich bekomme eine Robe aus grauem Nesselstoff, der Kopf wird rasiert, um der Eitelkeit zu entkommen. Die nächsten zwei Wochen werde ich weder baden noch duschen, um meinen Eigenduft zu finden. Zum Abendessen gibt es Sandelholzplätzchen, Salat und Jahrgangsurin. Wir dürfen alles essen, was sich selber anbietet, doch auch nach längerer Diskussion will sich eine Tomate nicht hergeben. Hungrig liege ich auf dem Boden unter einer Decke aus Stroh und schreibe im Dunklen. Morgen beginnen die Anwendungen.
23.09.2009
Um vier Uhr gibt es Frühstück (Sauerampfer mit Patchouli, so begierig, verspeist zu werden, dass es sich mir geradezu in den Mund drängt), von fünf bis dreizehn Uhr Selbstverwirklichung in Arbeit. Wir sitzen an langen Tischen und drehen Räucherstäbchen. Jetzt weiß ich, wie Geist und Körper im Einklang schwingen können, wenn man sich ganz hingibt. Nach dem Mittagessen (Graswurzelgeschnetzeltes) Einzelsitzung mit Dieter. Wir setzen uns Schwitzhüte auf und ich bekomme mein Mantra, das ich keinem verraten darf, weil es sonst seine Energie verliert. Ich summe es immerzu: "You can't run away from yourself". Nach dem Abendessen (Lichtsuppe) gemeinsames reenactment einer LSD-Sitzung. Thomas, ein anderer spiritueller Führer, stellt Timothy Leary nach und rezitiert solange aus dem Tibetanischen Totenbuch, bis alle freiwillig eine Nahtoderfahrung haben.
24.09.2009
Nach dem Frühstück (Mondbrei) versuche ich zu fliehen, werde jedoch von der Lovepolice aufgehalten. Man umringt mich und bestrahlt mich mit Liebe, bis ich schließlich wieder Räucherstäbchen drehe. Nach dem Mittagessen (Seelenmousse) Gruppensitzung: wir massieren uns gegenseitig Falten ins Gesicht, um das Altern zu akzeptieren. Nur mit einer solchen Haltung lässt es sich biologisch korrekt leben, erklärt Dieter. Ich fürchte, ich bin noch weit entfernt von meinem inneren Großvater. Nach dem Abendessen (Monatsblutsuppe) warten wir auf den Mondaufgang. Wir sitzen auf einer Lichtung, jaulen und heulen. Ich habe ernste Visionen von goldenen Lettern, die über den Nachthimmel schweben. Leider kann ich nichts lesen, es scheint sich um ein fremdes Alphabet zu handeln. Ich träume von Dampfloks, die bonbonfarbenen Rauch ausstoßen, den ich einatme.
25.09.2009
Nach dem Frühstück (Energiebrötchen) ist mir schlecht. Dieter findet, dass dies ein gutes Zeichen sei und bringt mich zur Arbeitstherapie in den Zauberkräutergarten. Nach längerem Gespräch mit einer Datura erneut Gesichte. Weit entfernt, am Horizont, sehe ich einen uralten Mann in weißem Gewand, der, auf einen knotigen Stock gestützt, auf mich zukommt und sich dabei immer mehr entfernt. Nach dem Mittagessen (Knoblauch in Tigerbalm) Mentaltantrischer Sex mit Gisela, einer korpulenten Rheinländerin mit vielen interessanten Falten. Ich habe geistige Erektionsstörungen. Um die Spannungen zu lösen, wird mir Spießrutenlaufen verschrieben. Meine Mitpatienten stellen sich in einer langen Reihe auf, an der ich entlanglaufe und dabei mit gekochtem Rosenkohl beworfen werde. Ich hasse Rosenkohl. Durch die Intensität der Erfahrung bekomme ich eine mentale Dauerlatte. Nach dem Abendessen (Rosenkohl) gemeinsames Sternsingen. Langsam beginne ich, mich in meiner Zelle wohl zu fühlen.
30.09.2006
Ich habe heute einen Antrag an die Krankenkasse geschrieben, noch weitere vier Wochen in Behandlung bleiben zu dürfen. Dieter und Thomas meinen, ich sei ein selten harter Knochen, der erst in feinste Atome gespalten werden müsse, um dann als ganzer Mensch neu zu entstehen. Heute Abend werde ich Gisela wiedersehen, wir wollen versuchen, ein Lichtwesen zu zeugen.