Alle epischen Texte, die in keine andere Kategorie passen

Strandgut

Beitragvon cube » Sa 16 Apr, 2011 13:34


Die nachfolgenden Texte fand ich auf der Festplatte eines gebrauchten Netbooks, das ich auf einem Flohmarkt in Essen-Rüttenscheid kaufte. Anscheinend hat der einstige Besitzer seine Erlebnisse auf eine Art Diktiergerät gesprochen und später abgetippt. Ich verstehe nicht, warum er diesen Aufwand betrieben hat, vermute aber, er wollte Erfahrungen möglichst unmittelbar dokumentieren. Der Text ist fast unverändert übernommen, ich habe vor der Veröffentlichung nur ein paar detailverliebte Sex- und Gewaltszenen zensieren müssen. Es ist ein elektronisches Tagebuch. Erlebnisberichte wechseln sich ab mit Reflektionen. Tagebuch würde ich es wenigstens nennen, wenn ich einen Namen dafür finden müsste. Auf demselben Speichermedium befand sich ein Foto mit einem kleinen Rothaarigen, der aus hypnotischen Rehaugen in die Kamera kuckt. Das ist der Autor des Tagebuchs, falls man der Bildunterschrift Glauben schenkt und das alles nicht nur ein seltsamer Fake ist.

17.08.2010
Wir suchen vorsichtig einen Weg durch das verlassene Gewerbegebiet. Der Weg ist nicht ungefährlich. Zwischen den Gebäudegerippen verbergen sich in der teils hüfthohen Vegetation Schienen, altes Gerät und Scherben. Hank versucht aus der Landkarte seines Handys schlau zu werden. Wir haben die Koordinaten der wilden Party in unsere navigationsfähigen Handys eingegeben, sind aber durch die dreifache Kartensicht auch nicht klüger geworden. Und haben beschlossen, dass es besser wäre, nur einer bestimmt die Marschroute. Hank war die logische Wahl. Er besitzt einen erstaunlich gut entwickelten Orientierungssinn, vielleicht nimmt er deswegen so gerne die Richtungslosigkeit der Gesellschaft aufs Korn. Jedenfalls scheint der ihm im Moment nicht zu helfen. Uns nicht zu helfen. Seit ungefähr zehn Minuten hören wir Bässe, ohne ihren Ursprung verorten zu können. Es ist wie verhext. Ich spüle eine rote Pille, auf die ein Ferrari gepresst ist, mit dem letzten Schluck Bier runter und werfe die leere Flasche in die Nacht. Sie zerschellt an irgendeiner Wand. "Da muss es sein", sagt Rahim nach einer weiteren Viertelstunde herumirren.

Der Kapitalimus frisst seine Kinder.
Krakelige gelbe Schrift, eine dünne Spur Farbe auf rotem Backstein. Rahim schüttelt den Kopf. Hank beginnt über die hilflose Sehnsucht nach Dasein zu reden, die er als Auslöser versteht für derlei hingekritzelte Parolen. "Wir dürfen dem System der Phrasen keine Phrasen entgegensetzen", sagt er. "Jeder hohle Wortkörper stärkt das System, das uns unablässig mit Worthülsen beschießt. Wer zu den gleichen Mitteln greift, gleicht sich an ..." Vielleicht, wende ich ein, wäre es doch der richtige Weg – die Zahl der leeren Worte erhöhen, bis der Platitüden-Berg implodiert ... Vor der Industrieruine steht eine aufgedonnerte Tusse neben dem Eingang – einem Loch, aus dem die muffige Kühle verlassener Lagerhallen dunstet, stockdunkel das Innere.

Sie gibt uns Nachtsichtbrillen und kabellose Kopfhörer. Auf meinem läuft fuck the pain away. Vorsichtig bahne ich mir einen Weg in die Location, die Infrarotsicht zeigt das dichte Beieinander von orangenen Menschflächen, die zu verfließen scheinen. Das eigentlich Warme der Farbe wird durch die Maschine gefiltert. Ich wechsele die Kategorien und bleibe bei sphärischen Klängen hängen. Das Richtige für sanftes Raufkommen, denke ich, und um in der Bewegung die Pille zu vergessen, bis der Wirkstoff sich entfaltet und vergessen lässt, dass ich mich bewege. So kommt es auch - irgendwann werden Gedanken von Bildern abgelöst, dann die Bilder von Farbströmen, die sich wahrscheinlich auch wieder in irgendetwas auflösen, aber spätestens ab dem Zeitpunkt bin ich nicht mehr wirklich dabei. XTC / Techno / Bits and Bytes. Die unheilige Dreifaltigkeit ist der authentischste Ausdruck unseres jungen Jahrtausends. Totale Künstlichkeit. Künstliche Welten und Gefühle, Maschinenmusik und Maschinendimension. Ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt. Aber dieses unechte Leben ist die einzige echte Existenz, die ich als Kind meiner Zeit leben kann.

18.08.2010
Paco meinte ja, unsere Zerstörungswut sei nichts als zu Aggression gedrehte Traurigkeit. Wir sollten der Trauer ins Gesicht sehen und ihre individuellen Züge erkennen. Das wäre es, was Männer täten. Paco war unser Meister. Der hat uns alles beigebracht. Was er sagte, glaubten wir. Also kuckten wir damals in uns rein und – fanden nichts. Schon komisch, wenn an der Stelle, wo die Allgemeinheit was zu haben behauptet, nichts ist. Als fehle einem ein Bein oder so. Aber macht ja eigentlich auch nichts, es kommen ja auch einäugige Humpelmänner durchs Leben. Wer bestimmt, dass die eine Existenz einer anderen etwas voraus hat?
Wir drei sind alle Gewächse aus der Saat von Pacos Worten, um es mal poetisch auszudrücken. Der wusste auf alles eine Antwort und uns vaterlosen Gesellen war das natürlich eine Orientierung, mehr noch, er wurde unser Idol. Pacos Zunge sprach die Wahrheit, er war keiner von diesen Meinungsmündern, die einem allerorten begegnen. So schien uns das. Als er seinen Schülern, also uns, so weit vertraute, dass er uns allein in seiner Wohnung ließ, entdeckten wir ein Buch unter seinem Kopfkissen, in dem wir ziemlich viele seiner Sprüche wiederfanden.
Wir waren richtig wütend, dass er uns was vorgemacht hat, oder hauptsächlich, weil wir uns was haben vormachen lassen. Aber das Buch wusste auch für diese Situation einen Rat: Ein Absatz erzählte davon, dass der Autor seine Idole gestürzt habe und zwischen den Scherben seiner Vorbilder geweint. Diese Sentenz hatte uns unser Meister bis jetzt vorenthalten. Vielleicht fand er die Zeit noch nicht reif oder er wollte, dass wir dieses Buch fanden oder er war schlicht ein Blender, der sich gerne einen Jüngerkreis hielt.
Als Paco wieder zurückkam, verprügelten wir ihn mit seinen Haushaltsgeräten, mit Nudelholz, Kochlöffel und so, ich weiß auch nicht, das fanden wir irgendwie witzig ... und gaben ihm Quartierverbot mit auf den Weg, als wir ihn die Treppen hinunter stießen. Auch wenn er es in der Hektik und Lautstärke nicht verstanden hat, scheint der Tenor klargeworden zu sein. Wir sahen ihn nie wieder. In seiner nun verlassen wirkenden Butze versuchten wir darüber zu weinen, was wir getan hatten, das erschien uns ebenso sinnvoll, wie Paco, unser Idol, kaputt zu schlagen. Wir folgten seinem Wort und dem Wort, dem er folgte. Was Männer halt tun müssen. Aber wieder war nichts in uns zu finden. Das Buch bot klare Handlungsanweisungen, scheinbar waren wir die inkompatible Komponente. Keine Traurigkeit, keine Reue. Keine Idee von diesen Dingen. Wir hatten die Erde verbrannt, aus der wir stammten. Wurzellosigkeit. Die fühlte sich richtig an.

20.08.2010

Hank deliriert über sein Selbst, das er sich als als leeren Signifikant vorstellt. Das ist sein Ding, beziehungslos sein, als einziger im System der Codes und Zeichen. Unverständlich und damit nicht zu vereinnahmen, völlig unabhängig. Ich glaube es funktioniert, theoretisch, so weit ich es verstehe.
Rahim kommentiert Hanks Gebrabbel mürrisch, er tigert durch die enge, stinkende Wohnung, wo sich schmutziges Geschirr von vielen Wochen den Platz streitig macht mit muffeligen Kleiderbündeln. "Was soll das mit dem Fenster?", frage ich, als er es aufmacht. "Hier ist was Chemisches. Insektizide. Aggressiver Reiniger. Macht mich wahnsinnig." Telegrammstil. Auf der Wendeltreppe in die innere Tiefe redet er immer dieses Stakkato. Als verliere seine Sprache den Fluss und könne nur noch kurze Signale abgeben, wie ein Leuchtturmwärter. Er klingt dann auch immer so bisschen nach Klischee-Türke. Ich schnüffele. Wie erwartet: Nichts, das irgendwas mit Chemie zu tun hat.
Er geht uns mit seinen Geruchshalluzinationen nicht das erste Mal auf die Nerven. "Wir müssen raus", sage ich.
"Wieso? Was sollen wir da. Da stinkt es." Das kommt mir gerade irrational vor, aber ich kriege diese Empfindung nicht klar genug, um sie in Worte zu fassen. Ich versuche, eine passende Antwort zu überlegen. "So lange es hell ist!", rufe ich.
Rahim mustert mich argwöhnisch, zu Recht vielleicht, man weiß es nicht, jetzt, da ich in seinem Verdacht stehe, finde ich mich selbst verdächtig. "Was hat das Licht damit zu tun?"
"Wir müssen los, bevor es dunkel wird!" Rahim nickt jetzt. Anscheinend besänftigt.
"Es ist an der Zeit", hebt sich ein formulierter Satz aus dem Brei von Hanks Gestammel, "die Wände mit leeren Signifikanten zu füllen. Zeichen, die auf nichts verweisen. Die Beziehungslosigkeit öffentlich machen. Mit den ganzen Lügen aufräumen."

Rahim schnauft. Nicht sein Thema. Er würde lieber Revolution spielen, Autos anzünden und Mülltonnen, ein paar längstgebrochene Tabus erneut brechen, als gäbe es weder Gestern noch Morgen. Der fleischgewordene Dämon, anarchistisch und chaotisch, zerstörungslustig. Er würde alle Strukturen und Systeme zum Einsturz bringen, wenn er könnte. Rahim beschäftigt sich nicht mit dem Danach, sucht nicht nach Alternativen. Konsequent verneinend, ohne das Trugbild einer schönen neuen Welt anzubieten. Dostojevski hätte ihn verstanden und verachtet.
Aber jetzt ist sein Blick unstet, nicht flammend, er leidet unter den Wahnvorstellungen, ich glaube in seinen Augen die Erkenntnis flackern zu sehen, dass die Gerüche, die er wahrnimmt, nicht da sind, dass etwas in ihm durcheinandergeraten ist, trotzdem überlegt er weiter, woher der Geruch kommen könnte. "Wir gehen Hauptbahnhof. Haschisch." Ich nicke nur. Egal.

Wir halten Hank an den Füßen fest und lassen ihn kopfüber ins Wasser hängen, tauchen ihn wiederholt in den Fluss. Spendieren ihm danach einen halben Liter Kaffee. Er glotzt uns misstrauisch an und fragt, was passiert sei. Wir erklären ihm die Situation: Hank wäre halt ins Wasser gefallen und wir hätten ihn gerettet. Ich will jetzt nicht von einem heilsamen Schock reden, aber mit seinem Signifikanten-Gelaber war danach für ein paar Tage Schluss. Er schielte mich manchmal noch misstrauisch an, machte aber einen einsatzfähigen Eindruck.

Wie immer bin ich der Lockvogel. Wirke freundlich und harmlos, so Marke Touri und Wochenendkiffer. Des Großstadtkleindealers Lieblingsbeute. Hank und Rahim verstecken sich hinter einem Busch in der Nähe der Eisenbahnbrücke. Dorthin soll ich den Typen locken – bisher weiß ich noch nicht mal, wer hier mein Ansprechpartner ist. Nach wenigen Sekunden aber habe ich einen entdeckt, der mit ziemlicher Sicherheit hier seine kleinen Geschäfte abwickelt. Marokkaner oder Tunesier, tippe ich. Er bemerkt meinen Blick, wir haben eine Sekunde länger Augenkontakt, als es normal ist – so erkennt man sich hier - dann nickt er kaum merklich Richtung Eisenbahnbrücke. Klar, da latschen sie alle hin. Auf der Brücke raune ich im Vorbeigehen, hier sei es zu gefährlich und gehe weiter, ohne mich umzudrehen. Meine Schweine erkenne ich am Gang, wie die sich verhalten, das weiß ich. Auf der richtigen Höhe verlangsame ich meinen Schritt, lasse mich von ihm einholen und nenne eine Zahl. Das Produkt ist zu teuer und mit einem bescheuerten Anfall echter Empörung versuche ich ihn runterzuhandeln, seine Preise grenzen an Straßenraub, er verlangt das Doppelte des üblichen Kurses. Ich feilsche und feilsche – ergebnislos, ein harter Knochen, behauptet, Deutsch weder sprechen noch verstehen zu können "Nix deutsch, nix deutsch". Er versucht meine Faust zu öffnen, in der ich das Dope festhalte. "Verpiss dich!" Entrüste ich mich und schlage seinen Arm zur Seite. Das war das Stichwort. In dem Gesicht des Dealers sehe ich Überraschung, Misstrauen, Wut in rascher Folge sich abwechseln. Dann Rahims Haken in die Nieren des Nordafrikaners. Der dreht sich halb und kriegt einen von Hank. Guter Schlag, es knackt und knirscht. Ein klebriger Faden aus Speichel und Blut spritzt aus seinem Mund. "Ruhig, ruhig", sage ich zu niemand besonderem und suche in seiner Jackentasche nach dem in blaues Zellophan verpackten Haschisch. Da, ein kleiner Brocken, höchstens zehn Gramm. Nicht besonders viel, aber auf die Menge kommt es nicht an, im Vordergrund steht die Aktion. "Wo ist dein Bunker?", fragt Hank. Und bekommt Schulterzucken und Nichtverstehensgesten zu sehen, auf die er mit einem Eiertritt antwortet. "Ich will nicht mehr hören, dass du nichts verstehst, scheiß Kanake", sagt Rahim. "Solche wie dich brauchen wir hier nicht. Drogen verticken, kein Deutsch können ..." Ein älteres Paar kommt vorbei, den Blick starr geradeaus gerichtet, stumm wie Fische. Ich genieße das Gefühl, in einer Blase aus Gewalt und Kraft zu stehen, den Blicke weglenkenden Einfluss, den diese Blase hat.
Mit einem Mal weg sind all die nach Verbrauchtsein und Leere schmeckenden Nebel und Weben, die über Gedanken und Sinneseindrücken lagen. Nur noch das reine Gefühl von Überlegenheit, gleichgültig, wie feige sie ist. Rahim fasst den Haschischverkäufer an den Schultern und will ihn ins Gebüsch zerren. Der krallt sich am Brückengeländer fest, ich sehe, wie er auf seine verkniffene Unterlippe beißt. Schreien will er, um Hilfe rufen, aber er tut es nicht. Vielleicht hat er keine Papiere oder er ist mit einem Radius von 30 km einem Asylantenheim in der Pampa zugeordnet oder wird per Haftbefehl gesucht. Es könnte auch jeder der Punkte auf einmal zutreffen, glaube ich, aber das ist gerade nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass er die Klappe hält, das verrät ihn, der wird keine Anzeige machen, an dem kann man sich austoben. Hank nimmt Maß und schlägt mit Genießerlächeln den Teleskopschlagstock auf die um das Geländer gekrallten Finger. Jetzt doch Geräusche, eine Explosion von einem Jaulen. Am Ende des Weges sehe ich die Alte sich noch einmal umdrehen, in dem Moment der Blick aus ihren schreckgeweiteten Augen wie in Großaufnahme, und den Arm ihres Mannes, der schnell ihre Schultern umfasst und sie mitzieht. Die werden den Notruf wählen.
"Wir verschwinden", sage ich. Das ist eine Ansage. Wenn ich sage, wir hauen ab, tun wir das auch. Nicht weil ich der Scheißanführer bin, sondern weil die beiden meinem Gefühl vertrauen. Hank nimmt noch schnell Maß und kloppt den Metallknuppel des Schlagstocks gegen sein Knie. Das Bein steht einen Moment in diesem unnatürlichen Winkel, der Hank zeigt, dass er alles richtig gemacht hat, bevor der Typ zusammenbricht. Ein paar Tritte kriegt er noch mit, bevor wir uns endgültig aus dem Staub machen. Über Garagendächer und Katzenstraßen, durch eine stille Gasse – schon mischen wir uns wieder unter die anonymisierende Masse, die sich träge über die Bürgersteige schiebt.

23.08.2010
Natürlich sind das nicht wir, man kann uns nicht verantwortlich machen. Wir spielen nur, nein, nicht einmal das, wir stellen Schauspieler dar, simulieren die Simulation. Ich habe da vorhin einen Film gesehen, der hat uns vorweggenommen. Wir hängen an den Fäden eines Regisseurs, Visionärs, Propheten – ungelogen, was ich da gesehen habe, das waren genau wir, ohne dass jemand von uns diesen Film bisher gesehen hätte. Der lässt uns über die Jahrzehnte hinweg tanzen, mir kommt es gerade vor, als hätte sich unsere Realität auf dieses sein Drehbuch hin entwickelt. Als wäre es unser Job, die schlimmstmögliche Vision der urbanen Kids wahrzumachen. Da haben wir natürlich noch einiges zu tun. Dabei fällt die Sinnfrage aus und auch auf der Suche nach einem Warum wird man nicht weit kommen. Vielleicht weil die Grenzen von Recht und Ordnung und Anstand automatisch expandieren wollen und irgendjemand dafür sorgen muss. So sinnlos das Ganze, wie dieses Journal zu schreiben. Man schreibt ja doch nur wegen dem absurden Wunsch, ein paar Spuren zu hinterlassen, okay, vielleicht ist das nicht das Schlechteste. Aber auf jeden Fall sind wir keine Selbststeller, der Vollständigkeit wegen werde ich den letzten Beitrag hochladen und später alle Einträge löschen. Warum auch nicht. Ob zu der stetig wachsenden riesigen Datenmenge des Planeten meine Zeilen hinzugefügt werden oder nicht – wen interessiert das schon? Das Spiel geht ohnehin weiter, das ist das einzige, was zählt.
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Re: Strandgut

Beitragvon Anna Lyse » Sa 16 Apr, 2011 14:33


hi cube,

:lach:

Die nachfolgenden Texte fand ich auf der Festplatte eines gebrauchten Netbooks, das ich auf einem Flohmarkt in Essen-Rüttenscheid kaufte. Anscheinend hat der einstige Besitzer seine Erlebnisse auf eine Art Diktiergerät gesprochen und später abgetippt. Ich verstehe nicht, warum er diesen Aufwand betrieben hat, vermute aber, er wollte Erfahrungen möglichst unmittelbar dokumentieren. Der Text ist fast unverändert übernommen, ich habe vor der Veröffentlichung nur ein paar detailverliebte Sex- und Gewaltszenen zensieren müssen. Es ist ein elektronisches Tagebuch. Erlebnisberichte wechseln sich ab mit Reflektionen. Tagebuch würde ich es wenigstens nennen, wenn ich einen Namen dafür finden müsste. Auf demselben Speichermedium befand sich ein Foto mit einem kleinen Rothaarigen, der aus hypnotischen Rehaugen in die Kamera kuckt. Das ist der Autor des Tagebuchs, falls man der Bildunterschrift Glauben schenkt und das alles nicht nur ein seltsamer Fake ist.


ich bin mir bei der authentizität der geschichte nicht so ganz im klaren ob du wirklich diesen laptop gekauft hast oder ob die geschichte aus deinem kopf stammt. letztlich werde ich mich für deinen kopf entscheiden... ich mein ok, authentisch ist vielleicht etwas überdreht aber immerhin bin ich schon so naiv zu glauben dass du wirklich diese geschichte aus einem alten laptop hast. ich fühl mich dumm.

na gut ich will mal zu der geschichte an sich kommen. ich hab mich so kaputtgelacht und weiss nicht genau ob ich die einzige bin die bei so einem quatsch lachen kann oder ob meine art von humor heute mal so kaputt ist...egal, gelacht ist gelacht.

der grund warum deine geschichte meines erachtens so interessant ist, ist weil es in dieser tagebuchform geschrieben und mit der note versehen ist einen seltsamen fund auf dem flohmarkt gemacht zu haben. dem voyeur in mir (und nicht nur in mir) gefällt diese geschichte bestimmt. da kann sie noch so kacke geschrieben sein (vergessen kann man schnell). warum lesen millionen von menschen irgendwelche klatsch und tratsch nachrichten bzw. blätter warum kümmern sie sich so sehr um das leben anderer, sei es noch so dämlich. ich denke das ist einfach ein rein menschlicher zug. so wie leute auf der autobahn langsamer fahren wenn sie an einem unfall vorbeifahren, nicht etwa aus vorsicht (der unfallort ist längst gesichert ein zügiges vorbeifahren ist nicht behindert), sondern weil man was zum glotzen braucht und zum erzählen. ok, ich muss mich mal zurück zum text machen, bin ja ganz woanders gelandet.

ich finde ein paar mehr absätze hätten diesem text nicht geschadet, denn bei so viel an schrift tut man sich doch schwer am ball zu bleiben. ansonsten kann ich wenig zur satzstellung usw. sagen, ich denke das sollten andere tun. ich kann lediglich erläutern wie die geschichte bei mir ankam.
denn ich habe tränen gelacht, wie so ne olle hexe.

gut ich mag hier jetzt an der stelle die bitterernsten kommentare der gegner hören, die sich warscheinlich an den ausufernden gewaltszenen festbeissen. so bitter ernst möchte ich grad nicht sein. ich höre es schon schreien, "wie kann man sowas lustig finden!" :]

lg,
isa
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Re: Strandgut

Beitragvon Old Gil » So 17 Apr, 2011 12:00


Heya cube,
Als ich deinen Text gelesen habe, habe ich einen Fehler gemacht: Ich habe bei der Stelle "Auf meinem läuft fuck the pain away." den Song (bzw den Track) auf Youtube gesucht und zumindest für den Abschnitt dieser, sagen wir, Party, das Ding im Hintergrund laufen lassen. Wenn ich das nicht gemacht hätte, vielleicht hätte ich deine Geschichte im Nachhinein auch einfach nur lustig gefunden. Aber Musik und Lesen, das ist so 'ne Mischung, das geht bei mir gar nicht. Ich werde da vereinnahmt, in einer Weise, dass ich mich eigentlich kaum noch wehren kann, der Text bekommt die Atmosphäre der Musik ab, ob das jetzt passt oder nicht. Naja.
Hab bisher noch nie von dieser "Peaches" gehört, scheint mir im Nachhinein aber ne lustige Frau zu sein, und irgendwie wirkt der Text jetzt auch so auf mich. Also, beim ersten Lesen, da dachte ich natürlich schon, was für eine furchtbare Welt, in der wir leben. Oh nein. Aber, wenn ich mir jetzt nochmal Exzerpte anschaue, stellt sich das Gefühl (was wahrscheinlich eben auch durch die Musik mit induziert wurde) nicht mehr ein. Warum?
Der Text ist leider völlig von meiner Welt weg. Sagen wir es so: Ich bin achtzehn und wohne bei meiner Mutter in einem Reihenhaus in einem kleinen Dorf bei Freiburg. Ich war in meinem Leben nur ein Mal richtig besoffen, ansonsten habe ich noch überhaupt nie (nie, Jesus!) Drogen genommen. An sich bin ich recht hoffnungsvoll was die Zukunft angeht. Gewalt finde ich doof, ich glaube, ich war seit Jahren in keine Prügelei oder sonstwas verwickelt. Kurz: Ich glaube, ich bin einfach zu spießig für deinen Text. Das muss nicht unbedingt gegen den Text sprechen, der handwerklich wunderbar ausgeführt daherkommt und mit dieser Einleitung auch mal was bietet, was ich so bisher noch nicht gelesen habe (oder zumindest nicht oft). Es spricht einfach dafür, das hier zwei Welten aufeinanderprallen. Die Protagonisten, das ganze Umfeld, das ist so weit von mir entfernt, ich verliere den Bezug.
Nichtdestotrotz, ich habe ihn gern gelesen. Nur solche Sachen wie "Die unheilige Dreifaltigkeit ist der authentischste Ausdruck unseres jungen Jahrtausends." - das ist mir zu generalisiert. Es gibt genügend Zeitgenossen dieses Jahrtausends, die dir widersprechen könnten. Klar, der Typ, der das hier "schreibt", der Flohmarktverkäufer aus Essen-Rüttenscheid, sieht das wahrscheinlich anders, könnte man mir hier entgegenhalten. Wollte es auch nur angemerkt haben, vielleicht richtest du's ihm aus :lach:
Gern gelesen,
gil.
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Re: Strandgut

Beitragvon cube » So 17 Apr, 2011 12:15


na du olle hexe,

solche rahmen werden in wechselnden spielarten seit ner ganzen weile verwendet. heutzutage wohl etwas weniger, keine ahnung warum, vielleicht halten manche das für altbacken. auf jeden fall kenn ich welche, die darin ein merkmal literarischen schreibens sehen wollen.

also entweder der autor hat den rahmen erdacht, um die geschichte 1. interessanter zu machen oder 2. sich selbst hinter diesem zu verstecken oder 3. es ist tatsächlich so, wie behauptet wird. die liste ließe sich bestimmt fortsetzen, aber das ist, was mir auf den ersten blick so einfällt.

also freut mich natürlich riesig, wenn der text gefallen hat, auch wenn ich über die art des gefallens schon erstaunt war. gelacht, gelacht, gelacht? ist alles in ordnung bei euch? Oo
aber ist mir recht, ist auch gut, macht doch mit meinem text, was ihr wollt!

da kann sie noch so kacke geschrieben sein (vergessen kann man schnell)

ist die stilistisch so scheiße? :)

ja aber natürlich bedient der autor diese lust am schauen, der kleine kick, vom heimischen wohnzimmer aus einen blick in eine andere welt zu tun. auch, oder gerade?, wenn er sich diesen rahmen ausgedacht hat und nicht nur gefundene aufzeichnungen grob ediert und unter seinem cube-account hier gepostet.
ansonsten hätte er sich anscheinend sehr bemüht, authentische parallelkulturen zu simulieren - mit diesen fiesen kleinen szenen. vielleicht ist es ja auch alles authentisch, also aus echter erfahrung genommen. spielt eigentlich keine rolle.

so, ich geh jetzt mit meiner sativa spazieren!

ein oller hexerich

ps: hey gil! dir antworte ich später. werd mich auch beeilen - kann mich noch gut an die ungeduld der jugend erinnern. aber jetzt muss ich erstmal los!
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Re: Strandgut

Beitragvon cube » So 17 Apr, 2011 16:59


hallo nochmal,

kann das gar nicht als fehler verstehen, fuck the pain away zu diesem text zu hören, der track ist glaub ich von diesem übersexualisierten album, mit dem peaches einst debütierte. und mE passt der nicht schlecht zu den drei haltlosen jungs und ihrer inneren leere, dieser trotzigen haltlosigkeit, die sich in blinder zerstörungswut äußert. so ungefähr.

ja, hoffen wir mal, dass dieser text von der erfahrungswelt eines jeden lesers weit genug entfernt ist, dass er keinen bezug kriegt. dieser gedanke lässt mich auch ahnen, warum man darüber lachen kann - vllt ist diese darstellung von gewalt so überdreht, dass man sie nicht ernstnehmen kann. gegen zukunfts-hoffnung ist ja prinzipiell schwer was einzuwenden, das denkt bestimmt auch das liebe jesuskind. vielleicht ist das ja nur ein künstlicher text, der auf der welle von axolotl roadkill und bspw play. repeat. mitzuschwimmen versucht, der auf seine art dekadenz und das völlige fehlen eines inneren kompasses für wertigkeiten feiert.

aber gern gelesen und lob fürs handwerk sind natürlich schon sachen, die ich als text-finder sehr gern höre! nichtsdestotrotz (geiles wort!) bedanke ich mich auch ganz ehrlich für die kritische auseinandersetzung mit dem inhalt!

"Die unheilige Dreifaltigkeit ist der authentischste Ausdruck unseres jungen Jahrtausends." - das ist mir zu generalisiert.

da hat er den mund vllt ein bisschen zu voll genommen. die gesellschaft scheint ja im gegenteil immer weiter auszudifferenzieren, so generalisierungen sind heutzutage noch viel unsinniger als sie es ohnehin schon immer waren. zu seiner weltsicht aber scheint der satz zu passen - bei gelegenheit werde ich unsere kritik an seiner vereinfachung aber natürlich ausrichten.

schön dass du vorbei geschaut hast.
cube

ps: ich formatiere mal gleich am text rum. isa hat schon recht, dass man den sicher noch bisschen leserfreundlicher gestalten kann.
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Re: Strandgut

Beitragvon atti » Di 19 Apr, 2011 19:24


Ahoi.

Hat mir gefallen. Was hat mir gefallen? Die Einleitung hat mir am besten gefallen. Finde derlei zuweilen köstlich. Habe mich da tatsächlich noch vorgestern in Schillers Prosa mit amüsiert. Ja, ja.

Was hat mir noch gefallen? Diese kurzen Einblicke, die das "Tagebuch" umfasst, schaffen es ja tatsächlich in aller Kürze nicht nur die "Parallelgesellschaft(en)", in denen der Tagebuchschreiber lebt, vorzustellen, nein, man bekommt sogar noch Einblick in seinen Werdegang (Paco und so). Das fand ich auch sehr gelungen. Auch gut übrigens beim nochmaligen Überfliegen gerade: Diese kurze Reflexion über das Warum des Tagebuchs am Ende und der kleine Hoffnungsschimmer der darin mitschwingt, dass der letzte Eintrag vor dem Löschen doch noch hochgeladen wird. Da ist also doch noch was in Richtung Sinn(suche), auch wenn der Schreiber sich das nicht eingesteht.

Was hat mir noch gefallen? Habe sprachlich nichts zu beanstanden. Was das heißt, weiß ich nicht. :D

Und das war's.

Einen schönen Abend!
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Re: Strandgut

Beitragvon cube » Mi 20 Apr, 2011 21:08


Moin Mister atti

Sich mit Schiller amüsieren, darf man das? Solche Einleitungen sind ein bisschen aus der Mode gekommen, scheint mir, zumindest habe ich den Eindruck, so was bei etwas älterer Literatur öfter zu finden als bei zeitgenössischer. Kann aber auch sein, dass sich das in dem riesigen Literaturangebot schlicht verläuft, in einem Buch von Paul Auster, das ich gerade lese, macht er wenigstens was ganz ähnliches, reflektiert über seine Erinnerungen und wie die Erinnerungen täuschen und bezweifelt damit den Wahrheitsgehalt der eigenen Geschichte. Interessanter Weise hatte ich da den Eindruck, dass dieses Infragestellen der Sache Glaubwürdigkeit verleiht. Das ist natürlich nicht hundertprozentig mit einem gefundenen Text zu vergleichen, aber ein bisschen ähnlich finde ich die Situation schon.

Freut mich zur Hälfte, dass du nen Hoffnungsschimmer reinlesen konntest. Hoffnung ist ja was Gutes! Die andere Hälfte ist meine Intention. Wollte hier alle Ausgänge Richtung Horizont abgedichtet haben, das sind so drei Jungs, die eigentlich nichts mit Zukunft zu tun haben sollten. Ich finde die spannend, ich glaube mit denen kann ich noch mehr machen. Wenn die glaubhaft vorgestellt wurden und auch die Reflektionen nicht zu viel waren, das ist doch schon ne ganze Menge, also da macht der Text anscheinend was richtig. Hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass der gut angenommen wird.

Habe sprachlich nichts zu beanstanden. Was das heißt, weiß ich nicht.

Für mich auf jeden Fall nichts zu ändern an der Geschichte mehr. Kommt meiner Bequemlichkeit sehr entgegen.

Schön dass du wieder da bist. Müssen jetzt echt mal wieder ein Treffen hinkriegen bevors auf einmal Winter ist. Bspw ist irgendwann Ostern an der Alster grillen angedacht ...

Kiezgrüße ins edle Viertel. ;)

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