Gedichte, die gesellschaftliche oder politische Themen behandeln

Zivilisationsschlamm

Beitragvon zellhaufen » Mo 02 Mai, 2011 00:17




Zigtausend Ich-Prozessoren
haben ihre Fernbedienung verlegt
und irren steuerlos durch die Gassen.
Gezogen von unsichtbaren Ochsenkarren,
durch eine ewig helle Welt.

Federschmuck tragende Persönlichkeitsspaltungen
gehen in Kriegsbemalung auf die Pirsch.
In versifften Hinterhöfen,
veranstalten Halbgötter Paradiesvögel-Wettkämpfe.

Auf fliegenden Teppichen,
fadenscheinig zusammengenäht,
fliegen Menschenreste dahin.
Ein Spalier aus aufgehaltenen Händen,
gibt ihnen das OK-Zeichen.

Rolltreppen führen ins Nichts.
Schoßhunde führen Gesichter Gassi.
Schaufenster-Reflexionen wenden sich grausend ab.
Origamivögel aus Geldscheinen,
fliegen zirpend über Schultern ohne Köpfe.

Unter der Dunstglocke der Selbstsicherheit,
sind die Augen alles.
Sogar die Nacht ist so hell erleuchtet,
dass kein einziger Stern zu sehen ist.
Niemand kann sie mehr hören,
doch sie erzählen weiter ihre funkelnden Geschichten.

Klebe ein Schild mit der Aufschrift „Stein“
auf ein Stück Holz,
und es wird zu Stein werden.
Klebe ein Schild mit der Aufschrift „Mensch“
auf einen Menschen,
und er bleibt ein Affe.
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Re: Zivilisationsschlamm

Beitragvon Le_Freddy » Di 03 Mai, 2011 16:00


hey zellhaufen,

ich habe leider gestern eine wesentlich umfangreichere kritik geschrieben, die dann aber, dank der tollen autologout-funktion sogleich wieder verloren. (was mich etwas aufgeregt hat.) daher lass ich mal denn ganzen analytisch argumentativen kram weg und mach's kurz. hier einmal die kernpunkte:

schön:
* z.B.: "Rolltreppen führen ins Nichts. /Schoßhunde führen Gesichter Gassi. /Schaufenster-Reflexionen wenden sich grausend ab."
* die teils gut gelungene übernahme des "typisch expressionistischen", also der kanonisierten vorstellung davon. (siehe oben)

weniger:
* passagen wie diese: "veranstalten Halbgötter Paradiesvögel-Wettkämpfe. "
das ist zu gewollt, zu gestelzt. es ist nicht roh genug, nicht unmittelbar genug um expressionistisch zu sein - sowohl semantisch als auch sprachlich/klanglich.

schlimm:
* der 6te, der schlussabschnitt.
denn: a) es wird durch das futur (in verbindung mit der paradoxie des behaupteten) irgendwie mysthisch/prophetisch und b) es stellt ein "was sie beim lesen gelernt haben sollten" dar, ist damit wenig reizvoll, weil vollkommen unnötig und irgendwie anmaßend im gestus.


---
wie gesagt, das ist die kurzform. ich werde dir auch gerne erklären wie ich zu welcher überzeugung komme, bin allerdings nach wie vor zu frustriert alles nochmal neu zu schreiben.

lg
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Re: Zivilisationsschlamm

Beitragvon zellhaufen » Fr 06 Mai, 2011 12:09


Hallo Freddy!

Das tut mir aber leid um deinen verlorenen Kommentar. Die Technik hat mir auch schon mal einen fast feritgen Roman aus den digitalen Fingern gerissen... Ich muss direkt sagen, dass ich kein Lyriker oder Literat bin und kaum eine "kanonisierte Vorstellung" davon habe, was Expressionismus eigentlich bedeutet. Genau deshalb stelle ich meine Texte auch online, damit mir Leute die Ahnung haben sagen können, was für einen Bullshit ich da schreibe :-) Ich selbst würde es nicht merken.
Du würdest also den letzten Teil ersatzlos streichen? Ich will weder anmaßend noch belehrend rüberkommen, das mag ich gar nicht und so war der Text auch eigentlich nicht gedacht. Also weg damit!
Vielen Dank für deinen Kommentar.
LG
Z

P.S. Habe die Autologout-Funktion auch gerade kennengelernt. Echt eine tolle Sache...
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Re: Zivilisationsschlamm

Beitragvon Le_Freddy » Sa 07 Mai, 2011 01:27


also,

es ist mir natürlich kein anliegen, dir deinen text zu zerstören, du hast dir was dabei gedacht, und das solltest du verteidigen.
meine auffasung von deinem gedicht ist, dass es als expressionistisches geschrieben wurde, meine kritik ist eine rein ästhetische, die deinem text ja vllt. garnicht gerecht wird - zumal du ja angibst nicht so recht zu wissen was "expressionistisch" bedeutet (was mir schwer fällt zu glauben). die semantik habe ich bewusst außer acht gelassen, da ich das für wenig wichtig halte, so zum beispiel meine kritik an: "veranstalten Halbgötter Paradiesvögel-Wettkämpfe." natürlich sagt jedes einzelne wort etwas aus und teilt mir als leser etwas über die weltsicht des textsubjekts bzw über die umwelt mit, aber halte ich diese wortmonstren für schlicht unschön und (wie bereits erwähnt) nicht direkt genug. insofern ist es definitiv deine aufgabe zu entscheiden, ob das a) wahr, b) schlimm und c) auflösbar ist. (& wenn ja - wie?)
ich persönlich würde diesen part [edit: den letzten abschnitt] wohl tatsächlich fallen lassen, allerdings gefällt mir eben das bild. mein rat wäre einen ganz anderen ansatz zu finden, dieses bild einzubauen - nicht so aufdringlich wie jetzt.

generell gäbe es dann aber noch zu schleifende stellen.
angefangen bei der struktur: "Spricht mich übrigens mehr an als der erste Gedicht [gemeint ist dieses hier], was du gepostet hast, weil es seine Gesellschaftskritik mehr über Wahrnehmung als über absolute Aussagen laufen lässt. " schrieb antibegone über "Stadttauben" von dir. einerseits würde ich die aussage stützen, dass ein bloß behauptender text, sei es prosa oder lyrik, nicht besonders interessant ist. allerdings möchte ich gleichzeitig anmerken, dass der text bis (exklusive) zum fünfen abschnitt durch seine (formale-)objektivität besticht. das was das subjekt wahrnimmt gibt es ungefiltert weiter. der satzbau ist parataktisch (A tut B. C tut D. usw) es ist eine nüchterne beschreibung des geschehens, im gegensatz zum auftauchen der nebensätze im fünften abschnitt, hier werden kausalitäten aufgezeigt, was wesentlich mehr der geistigen leistung des textsubjekts durchscheinen lässt - also eine subjektivierung darstellt. lediglich die semantik lässt in den ersten vier abschnitten auf eine starke interpretatorische leistung des subjekts schließen. (etwa der 'versiffte hinterhof' und andere nicht so ganz klar wertende, aber noch wesentlich stärker von einer blühenden phantasie zeugenden, formulierungen)
ich halte diesen text nicht für übermäßig behauptend - bis auf den schluss, in dem sich das textsubjekt dazu hinreissen lässt mit dem leser ins gespräch kommen zu wollen.

naja.

außerdem wollte ich dich noch nach den kommata fragen. genauer: nach welchem muster du sie gebrauchst? dass es nicht einem herkömmlichen grammatischen muster folgt, ist schnell klar. bleibt für mich also noch die atemsteuerung, allerdings halte ich die mit kommata umzusetzen - in diesem fall jedenfalls - für überaus überflüssig, da du sie a) nur an versenden (was ja ohnehin eine zäsur im redefluss bedeutet / bedeuten könnte) und b) sie nur an syntagmengrenzen verwendest (was damit korreliert, dass versgrenzen in diesem text niemals syntagmen teilen).
was mich glauben macht, dass die zeichensetzung ganz anderen regeln, als der grammatischen oder einer gewünschten atemführung, folgt ist, dass beides nicht konsequent durchgestezt wäre (du hast nicht an jedem versende oder syntagmengrenze ein komma gesetzt), jedoch erschliesst sich mir dieser sinn nicht.


gute nacht
fred
Zuletzt geändert von Le_Freddy am Sa 07 Mai, 2011 13:19, insgesamt 2-mal geändert.
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