Geschichten zum Thema Alltag

N° 17 Uuuuuh!

Beitragvon C.J. Bartolomé » Do 21 Mär, 2013 09:33


In dem Schnellbau saß er, zwischen den Pfosten, Pfeilern, Säulen, die wie ein Skelett die Außenhaut, das übergestülpte Kleid aus Glas, Metall und Betonplatten spannten. Leichter, billiger Schnellbau, dort saß er und blätterte in den Seiten eines zu lesenden Buches. Irgendwo im Gebäude röhrten, brummten, quietschten Maschinen auf Wänden, die Vibrationen rasten am Skelett entlang und entluden sich auch und genau bei ihm, zwischen den Bücherregalen, zwischen seinen Ohren. Mutwillig, beinahe gereizt drückte er sich die Ohropax tiefer hinein, dass es knackte und schmatzte.
– Gott sei Dank! dachte er, als der Lärm der Bauarbeiten auf ein solches Minimum reduziert war, dass seine Konzentration nicht mehr litt. Gerade wollte sich sein Geist wieder den Blättern zuwenden, als er ein seltsames Pfeifen, Rauschen oder Sausen hörte. Aufgestachelt stieß er sich die Ohropax noch tiefer, schmerzhaft tief hinein. Seine Wut wuchs unaufhörlich, sein Ärger erhielt mit jedem der monotonen Lärmwellen eine intensivere Ausprägung, erfasste bald all sein Denken, sodass er mitten in einem Satz aufsah und die Ohren spitzte, den Feind auszumachen.
– Was für eine Schande, dachte er, hier, am Ort der geistigen, stillen Arbeit solch ein Lärm!
Er hieb auf den Tisch. Alle Konzentration, die kostbare, war verflogen. Aufgebracht rutschte er auf seinem Pressholzstuhl hin und her, innerlich schimpfte er über alle den Krach, das Widerliche, wellenartige Einsetzen dieser Bohrmaschine irgendwo. – Da fiel es ihm ein. Peinlich berührt beugte er sich wieder über seine kleine, zu tief liegende Tischplatte am Fenster und erinnerte sich: er kannte das unbeherrschbare Geräusch, schon letztes Mal, vor vielleicht zwei Wochen, hatte er direkt daneben gesessen und dann das Weite gesucht, indem er in ein anderes Stockwerk umzog, in dem das Pfeifen nicht mehr hörbar sein sollte. Und diese Erkenntnis hemmte urplötzlich allen Ärger, denn moralische Bedenken gegen das Ärgern–Dürfen krakten sich aus seinem Erinnern hoch.
– Was ich höre, dachte er, ist nicht eine Bohrmaschine, sondern eine Atemmaschine, und zwar die von dem fast vollständig Entzauberten, der klein, unbehaart, bewegungsunfähig wie ein greiser Fötus, aber denkend in seinem Allfunktions–Rollstuhl sitzt und Bücher studiert, dessen Atmung diese Maschine braucht. Dessen Haut unrein; dessen Arme stocksteif sind. Dieser.
Er verglich die Lärme im Haus und stellte fest, dass zwar beide von Menschen kamen, aber dass ein himmelweiter Unterschied zwischen ihnen lag. Der Bauarbeiter konnte lärmen und lärmte an einer Sache, der Entzauberte musste lärmen und der Lärm war sein Leben. Jeden Ärger über den Bauarbeiter konnte er freien Lauf lassen, aber den Ärger über die Atemmaschine musste er blockieren. Doch wie die Flut sich ihre Wege sucht, um ins Land zu schießen, brach auch diesmal ein innerer Deich irgendwo, und er fing an, sich über das Nicht–ärgern–Dürfen aufzuregen, er fing an, das Nicht–ärgern–Dürfen zu verdammen. Dabei fand er zu seiner Überraschung keine moralischen Hindernisse. Bald war seine Wut über die Störung verraucht, die Konzentration wachte ausgeruht auf und friedlich zogen seine Augen ihre Bahnen über die Zeilen.
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C.J. Bartolomé
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