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Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon rivus » Di 25 Jun, 2013 08:00


Hallo liebe Lifoianer! Im Kontext unsres Kulturkreises hatten Menschen wohl nie so viele Möglichkeiten Lebensziele zu verwirklichen, aber noch nie hingen sie so in der Luft! Wir können uns heutzutage angeblich immer neu erfinden, aber besteht hier nicht die Gefahr, dass sich die Konturen einer Identität im Meer zu vieler Möglichkeiten auflösen? Ja, ist es nicht ein Grundproblem vieler heutiger Menschen deswegen keine Identität entwickeln zu können?
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon lavite-machine » Di 25 Jun, 2013 11:12


Ich denke, das "Meer vieler Möglichkeiten" kann sicher auch Raum für Erweiterndes sein, so ist die eigene Entwicklung nicht eingegrenzt/begrenzt, sondern kann sich weiter von Neuem/weiteren Möglichkeiten nähren (im besten Fall stehenbleiben, wenn man das für sich Richtige erkennt)....Die Frage ist nur, warum oftmals ein Gefühl von "in der Luft hängen" entsteht?! Vielleicht, weil der Sinn dessen nicht wirklich verinnerlicht wird, ja, vielleicht, weil der Facettenreichtum an Möglichkeiten nicht innerlich wahrgenommen und differenziert wird, sondern nur mit und durch Schnelllebigkeit ertränkt wird.
Wahrscheinlich macht es mehr Sinn, sich einige Fixpunkte aufzubauen-auf einem möglichst stabilem Fundament, das man Schritt für Schritt durch klare Linien begrenzt. Dadurch kann dann Selbstwahrnehmung, innere Stabilität, ja, Identität entstehen, denke ich.

Liebe Grüße

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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon rivus » Di 25 Jun, 2013 12:59


ja ... die begrenzung ist gut. daraus kann man identität schöpfen. mit dieser stabileren klaviatur der identität kann man getrost improvisieren und phantasieren und vielleicht musil'sche geschichten (siehe "der mann ohne eigenschaften") schreiben. der möglichkeitsmensch vermag in feineren gespinsten zu leben, als in der bloßen wirklichkeit ;)!
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon rivus » Di 25 Jun, 2013 17:17


und dennoch, nach thomas thomä (philosoph), schwingt in den letzten zwei jahrzehnten so etwas in vielen wie "man verbrennt sich in dem gefühl, einstweilen unverwirklicht zu sein." heiner keupp(sozialpsycholge) warnt beispielweise vor überbordenden gefühlen des kontrollverlustes, weil "nichts mehr selbstverständlich ist", "weil ursprüngliche muster wegfallen", weil eben alles immer auch anders sein könnte. es gibt also einen impuls, der unsre lebensverhältnisse durchaus dauerhaft infrage stellt! mit diesem kontext einher würde ein abscheu, ein sogenannter "dégoût"..in vielen menschen verinnerlicht, der gegen alles rebelliert, was schon ist ... entspricht das nicht einem determinismus, der ein diktat der möglichkeiten in gang setzt, denen sich nur wenige entziehen können? ....
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon Gast » Mi 26 Jun, 2013 09:16


ja das diktat der möglichkeiten löst das diktat der eingeschränkten Möglichkeiten ab. dies ist ein "fortschritt" weil die fülle an möglichkeiten theoretisch immer schon da war nun aber auch in betracht gezogen wird. die tradition wird nicht eingeschränkt sondern erweitert denn die traditionellen denkmuster sind ebenso im diktat der möglichkeiten enthalten wie alle anderen potenziellen entwicklungsmöglichkeiten. das mit dem geist der gegen alles widerstrebt was besteht halte ich für überbewertet. es mag stimmen doch es ist irgendein dachschaden derer die nicht denken. so wie es jene gibt die nicht offen für neues sind gibt gibt es halt auch jene die dem alten gegenüber nicht aufgeschlossen sind.
Es ist wahr die jungen Menschen der letzten 20 Jahre sind keine punks die gegen alles sind oder hippies die alles kritisieren es ist eine generation die alles in betracht zieht und mehr oder weniger vernünftig entscheidet was sie will dabei aber eben nichts ausschliessen möchte damit einem nichts entgeht und das macht man nicht in der Gemeinschaft sondern jeder für sich. dabei wird eine recht rationale und nutzenorientierte denkweise angewandt, die konsequent auf jede entwicklungsmöglichkeit angewandt wird. und vor allem macht es jeder für sich allein.
dass man mit seinen eigenen kräften dieser fülle an möglichkeiten nicht herre werden kann ist klar, es wird aber auch niemandem aufgezwungen so zu denken oder sich die flut der möglichkeiten anzuschauen man kann sich dem offensichtlichen. höchstens nicht entziehen dass von "allem" bar jeder tradition gebrauch gemacht wird wenn es als erstrebenswert gilt. dass macht vllt manchem angst mir schon ein wenig. eine kulturelle verwahrlosung nur noch tierische gemeinsamkeiten unter den menschen obwohl es mehr kulturelle güter als je zuvor geben wird werden sie nur individuell genutzt so in etwa sieht meine vision aus. in der gemeinschaft geht man nur noch dem idiotismus nach
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon lavite-machine » Mi 26 Jun, 2013 15:34


Um den Punkt "man verbrennt sich in dem Gefühl, einstweilen unverwirklicht zu sein" (Heiner Keupp, siehe Beitrag von rivus) kurz aufzugreifen:
Gerade dieses " unverwirklicht sein" entsteht sicher aus dem Mißverhältnis, dem letztendlich verbrennenden Gefühl, zwischen dem eigenen Wesenskern und dem gelebten Außen, so denke ich. Ist der eigene Weg, der eigene Plan -oder wie auch immer man es nennen mag- nicht darauf begründet, den eigenen Kern, das Selbst freizuschaufeln, zu erkennen, einen Kreislauf in sich -selbst- anzustoßen und zu bewegen? Der Kreislauf der sinnerfüllten Umsetzung, der Verwirklichung, der Vervollkommnung im eigenen Innern zu finden und durch sich selbst zu schließen? Sicher findet man dies nicht im Außen zu vieler Möglichkeiten, denke ich.

Liebe Grüße

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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon knistern » Fr 28 Jun, 2013 09:08


Ich denke hier besteht ein semantischer Widerspruch, der ein nicht vorhandenes Problem konstruiert.
Ein Diktat schließt Möglichkeiten aus.
Möglichkeiten lassen die Wahl, sonst sind es keine.

Dass die Zahl, die Wertigkeit, die Erkennbarkeit, der Nutzen und die Fähigkeitkeit zur Verwirklichung von Möglichkeiten von der Befindlichkeit des jeweiligen Individuums abhängen hat a priori mit der Fragestellung nichts zu tun.

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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon rivus » Sa 29 Jun, 2013 15:01


ja knistern. das ist das herrliche an widersprüchen. ich meine, ganz im sog der modallogik, dass es ein diktat der möglichkeiten gibt, die uns zu einer diktatur der postmodernen führt. ist es nicht so, dass der heutige mensch, vor allem der, der sich im postmodernen kontext bewegt, vor einem dilemma steht? hat er doch vor lauter möglichkeiten keine echte wahl mehr. eine wahlfreiheit ist weit und breit nicht in sicht, wenn sie zum wahlzwang zu werden droht und diese gar schlußendlich zur wahlunfähigkeit, denn das entschiedene könnte ja die falsche entscheidung gewesen sein. und somit steckt der sogenannte moderne mensch in einem steten diktat. er will und darf keine option unbedacht lassen. er ist einer diktatur der möglichkeiten so ausgesetzt, dass er sich kaum noch festlegen kann. am ende ist er eine labile existenz, die unter dauerhaften vorbehalt steht. so meint es , glaub ich, dieter thomä, wenn er von "man verbrennt sich in dem gefühl, einstweilen unverwirklicht zu sein" schreibt! ....



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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon rivus » Sa 29 Jun, 2013 15:31


@ lavite-machine
ich denke, du zeichnest einen weg, den inneren, dem "patchwork" der ich- identität beizukommen. keupp spricht von identitätsmangement. // aber die welt hat sich so beschleunigt und dereguliert, dass wir halt dennoch unter ständigen wandelzwang stehen. in diesem sog entsteht sogar ein neuer sozialtypus. der "drifter" (nach dem soziologen hartmut rosa), ist einer mit permanenten selbstentwürfen: einer, der immer schneller mit dem rucksack des rasenden stillstands von welle zu welle schnellt, um nicht unterzugehen in der flut der impulse, aber dennoch weder grund noch ziel des richtungswechsels weiß .. er strampelt im kontext des überlebens, findet aber keinen eigenen halt des standorts ...
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon rivus » Sa 29 Jun, 2013 15:46


@senator

oh, deine vision erinnert an michel de montaigne "wir bestehen alle nur aus buntscheckigen fetzen, die locker und lose aneinander hängen." doch hier hätte ich auch angst und würde um die menschheit als gesellschaftliches ensemble und um die gemeinschaftsfähigkeit des menschen fürchten, denn lauter ichlinge würden kein oder zu wenig verantwortungsbewußstein für das gemeinwesen entwickeln und somit würden staaten und gesellschaften auseinanderbrechen und günstigenfalls würde nur noch wenige abdrücke der menschheit für eine weile bestehen bleiben ...
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon knistern » So 30 Jun, 2013 20:13


rivus hat geschrieben:ja knistern. das ist das herrliche an widersprüchen. ich meine, ganz im sog der modallogik, dass es ein diktat der möglichkeiten gibt, die uns zu einer diktatur der postmodernen führt. ist es nicht so, dass der heutige mensch, vor allem der, der sich im postmodernen kontext bewegt, vor einem dilemma steht? hat er doch vor lauter möglichkeiten keine echte wahl mehr. eine wahlfreiheit ist weit und breit nicht in sicht, wenn sie zum wahlzwang zu werden droht und diese gar schlußendlich zur wahlunfähigkeit, denn das entschiedene könnte ja die falsche entscheidung gewesen sein. und somit steckt der sogenannte moderne mensch in einem steten diktat. er will und darf keine option unbedacht lassen. er ist einer diktatur der möglichkeiten so ausgesetzt, dass er sich kaum noch festlegen kann. am ende ist er eine labile existenz, die unter dauerhaften vorbehalt steht. so meint es , glaub ich, dieter thomä, wenn er von "man verbrennt sich in dem gefühl, einstweilen unverwirklicht zu sein" schreibt! ....



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Ich sehe kein modernes Dilemma - auch kein postmodernes!
Dieses von Dir beschriebene "Dilemma" ist so alt wie der Homo sapiens. Als hätte man vor 100, 500, 1000 oder 2000 Jahren keine Entscheidungen zu treffen gehabt ! Und keine falschen Entscheidungen treffen können !
"Tiefer hängen, dann haut ihr euch den Kopf nicht an"
Außer dem kategorischen Imperativ habe ich noch keine Weltformel gefunden, gelesen oder mir vorstellen können.
Meine These:
Jeder der seine eigene Lebensmitte gefunden hat - hat diese Probleme nicht.
Alle anderen müssen ihre Lebensmitte weiter suchen - und nicht bei den Anderen !!!!!!!!
Und nicht erwarten dass Andere Dir diese zeigen!
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon rivus » So 30 Jun, 2013 21:02


hi knistern,

schmunzel, die gesellschaftsphilosophie schlägt sich aber ganz aktuell und schon seit 20jahren mit diesem thema rum ;). aber die frage ist ja auch kontrovers gestellt, um den sozialpessimismus auszutreiben, der sich breit macht, und dem möglichkeitsbegriff beinahe seiner möglichkeiten beraubt. und es gibt leider genug ernstzunehmende, existentielle, existenzbedrohende bezüge in den verschiedenen sozialen räumen, in denen menschen verlernt haben, sich zu entscheiden und sich erst mühselig wieder eine identität aufbauen müssen. es gibt unter den menschen vieler länder (viele, viel zu viele jugendliche) ein krise der identität, weil sich die soziale welt auf eine hybride weise beschleunigt hat ...


aber ergänzend zu deinen historischen bezügen, die universalhistorisch unzweifelhaft wahr sind, bin ich auch dafür, die unruhe der vielen möglichkeiten als schöpferische kraft zu nutzen, um eine eigene identität zu finden. denn, ohne diese unruhe der möglichkeiten könnte nichts entstehen, hätte man nichts zu erzählen. es gäbe keine geschichte des selbst.


vg
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon rivus » Mo 01 Jul, 2013 06:41


hm, und doch, wie kann es sein, dass nationalsozialistische verbrechen mit in den möglichkeitsraum einzogen und das unmögliche sich auf barbarische weise vollzog, vollzieht und immer wieder vollziehen kann?
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon knistern » Mo 01 Jul, 2013 09:29


Unmögliches?

Längst ist geschichtlich bewiesen dass Dinge, Verhaltensweisen, Zustände niemals "unmöglich" sind. Äusserstenfalls nicht erklärbar - wobei sich im Laufe der Evolution immer wieder gezeigt hat dass dies lediglich am fehlenden Wissens- und/oder Erkenntnisstand gelegen hatte.
Selbst in meinem winzigen literarischen Kosmos stelle ich immer wieder fest, dass Situationen die ich mir ausgedacht, aber zunächst davor zurück geschreckt hatte diese nieder zu schreiben, längst geschehen waren.
Meine Erkenntnis:
Was immer ein Mensch sich ausdenken kann - ist lange schon geschehen.

Also was ist unmöglich ?
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Re: Gibt es eine Diktatur der Möglichkeiten?

Beitragvon rivus » Mo 01 Jul, 2013 22:19


mit adorno, ja, das unmögliche ist nicht nur möglich, sondern vollzieht sich längst bzw. das unmögliche war nicht nur möglich, sondern vollzog sich längst, aber, ja, knistern, es stimmt. ....
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