[b]Schrank voll[/b]
Anna öffnete die obereren Küchenschranktüren und begann auszuräumen. Teil für Teil stellte sie auf den Tisch, bis dort kein Platz mehr war. „Meine Güte, was sich da alles angesammelt hatte, was nie benutzt wurde – und dennoch hatte es seinen Wert.“
Sanft strich sie über die alte Kaffeemühle von Oma - längst funktionierte sie nicht mehr. Doch Anna sah die Oma vor sich in der Bauernküche sitzen, als sie selbst noch Kind war. Sie hörte die Kühe hinter der angrenzenden Stalltür murren. Sie sah die Oma nach den immer gegenwärtigen lästigen Fliegen schlagen und dann doch, die Kaffeemühle zwischen die Beine geklemmt, fröhlich lachend kurbeln. Anna meinte, die Bohnen knirschen zu hören und ein Hauch des vertrauten Duftes durchzog die Küche.
„Wer mahlt denn heute noch Kaffee selbst? Heute trinkt man Cappuchino aus kleinen, breitenTassen oder Latte Machiatto aus hohen, schlanken Gläsern, die die Dolce Maschine einfüllte.“
Gedankenverloren wischte Anna über die silberfarbene Keksdose mit dem ehemals blankpolierten Knopf am Deckel. So oft hatte Mutter diese Dose verheißungsvoll aus dem Schrank genommen, wenn mal wieder Monatsende war und die anderen Kinder sich Hanuta kaufen konnten, nur Anna nicht. Immer war eine kleine Süßigkeit dort versteckt gewesen und immer noch verströmte die Blechdose mit erstem Rostansatz den Geruch von Schokolade.
„Heute hatten die Kinder Laptops und eigene Fernseher, bekamen als Trost CDs oder Computerspiele - ob sie mit solch einer Dose noch zu locken wären?“ fragte Anna sich.
„Doch, waren sie“, entschied sie, denn auch Anna hatte diese Dose für ihre Tochter eingesetzt. Darum hatte die ihr, als sie fünf war, eine neue Dose geschenkt. Eine aus Keramik mit einer pinken Porzellanrose auf dem Deckel. „Wie lange war das her“, dachte Anna? Die neue Dose hatte die mit dem Goldknauf ersetzt und fortan wurde dort nur noch Krimskrams deponiert. Die Tochter war längst ausgezogen.
Annas Blick fiel auf den hölzernen Salz -und Pfefferstreuer, den sie damals in Tunesien gekauft hatte, als sie sich in Tunis an der Universität anmeldete. Das Zedernholz war bereits mehrfach gerissen und geklebt worden. Auf dem Tisch hinterließ er, als Anna ihn anhob, eine feine Spur Salz. So oft hatte ihr Mann schon gesagt: „Mensch, kauf dir mal einen anständigen Salzstreuer. Das ist eine Katastrophe, das Teil.“.
Das Rosenservice, von dem bereits mehrere Tassen zu Bruch gegangen waren, hatten sie sich zum Hauseinstand gekauft. Heute hatte sie drei weitere „gute“ Services im Schrank von namhaften Firmen. Für „wenn Besuch kam“ - benutzt hatten sie selbst immer dieses.
Heute tranken die Gäste lieber aus Bechertassen und nahmen ihr Kuchenstück klein geschnitten in die Hand von Plastiktellern einer amerikanischen Firma. Finger-Food nannte man das. „Früher musste man sich immer vor dem Essen die Hände waschen, heute danach“, nörgelte es in Anna.
Irgendwie fühlte sie schlechte Laune in sich aufziehen. Sie packte sich einen Haushaltsschwamm und begann die Innenflächen des Schrankes auszuscheuern. Fleckenlos sollte es sein.“ Doch waren Flecken nicht die Spuren des Gestern - dessen, was war?“ kritisierte ihr Geist ihr Tun.
Anna scheuerte bis ihre Hände rau waren und wischte noch zweimal mit einem in klarem Wasser getränkten Tuch nach.
Klarheit.
„Mit Mitte fünfzig muss man mal ausräumen“, drängte es in ihr. „Um zu sehen, was man hatte - um zu schauen, was man noch will. Zurücklassen, was doch verloren ist und in sich bewahren mit blankem Knopf, was längst nicht mehr glänzt im Hier und Heute, um Neues zum Glänzen bringen zu können.“
Entschlossen griff Anna sich eine Tüte, packte die Dosen hinein, den Salzstreuer, das Rosenservice, einiges mehr noch und brachte alles nach draußen. Es schepperte und klirrte, als sie es in den großen, grauen Mülleimer warf.