Geschichten zum Thema Alltag

Entfaltete Worte

Beitragvon Antibegone » Mo 11 Mai, 2009 13:26


„Sag mir, wann es Zeit ist“, batst du mich. Ich kannte deine Worte, bevor du den Mund öffnetest, um deine Gedanken zusammen mit der Luft zu Schall reagieren zu lassen. Denn ich hatte die tonlosen Buchstaben bereits von deinen Nerven gepflückt und sie in mich hinein gesogen, damit ich sie anschließend in den Boden meines Kopfes betten konnte. Ich hockte mich neben sie und beobachtete, wie sie keimten, aus der Erde hervor krochen und ihre Blätter entfalteten.
„Sag mir Bescheid, ja?" Du dachtest, ich hätte dich nicht verstanden, nicht einmal gehört. Du weißt nicht: Ich sitze neben deinen Worten. Von dort aus sah ich, wie deine Wimpern ineinander griffen, noch bevor dein Vorhaben deine Lider erreicht hatte. Ebenso hatte ich gesehen, dass du ihn verlassen würdest, weil er dich wie ein Stück Dreck behandelt hatte und, dass du wieder zu ihm zurück kehren würdest.
Ein eisernes Quietschen, das Funkenfluggeräusch. „Du solltest mir doch Bescheid sagen“, beschwertest du dich und standst auf, um mir Lebewohl zu sagen, dabei warfst du mir in aller Stille das Versäumnis vor, dich zu wecken.
Ich umarmte dir ein Auf Wiedersehen, auch wenn mir klar ist, dass du schon abgefahren bist.
„Es war längst Zeit. Du wusstest es nur nicht“, flüstere ich deinen Worten in meinem Kopf zu. Sie ruhen noch immer auf meinem Boden, sind verwelkt und müde, aber, wenn ich mich unter sie lege, rascheln sie mir wie an jenem Tag ihren Klang zu.
Und ich glaube, sie können mich auch hören.
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Re: Entfaltete Würter

Beitragvon exmaex » Di 12 Mai, 2009 12:50


hallo myr´jam,

vorab sind mir zwei zeitform-alitäten aufgefallen:
Du dachtest [...]. Du weißt nicht: Ich sitze neben deinen Wörtern. Von dort aus sah ich

plötzlicher präsenswechsel, der irgendwie inkonsistent wirkt. auch wenn ich vermute, dass du die zeitlosigkeit des nebendenwortenhockens durch die gegenwart hervorzuheben gedachtest, fände ich es trotzdem besser, auch diesen satz ins präteritum zu katapultieren.
dich zu wecken.//
Ich umarmte dir ein Auf Wiedersehen, auch wenn mir klar ist, dass du schon abgefahren bist. [...]

ich verstehe den absatz als übergang von vergangenheit zu gegenwart, aber hier warst du auch etwas schusselig: umarme

ein kleines verständnisproblem habe ich mit der formulierung
Ich umarmte dir ein Auf Wiedersehen

das dir lässt eine stumme umarmung als ersatz für ein gesagtes "auf wiedersehen" vermuten. soweit so gut. wenn das du bereits weg ist... ich - hä?

sprache:
was mich sehr an der geschichte stört ist die überladene gedankenwelt des prots, dieses - fast schone - flüsterfingertum. ich geh mal iterativ durch:
um deine Gedanken zusammen mit der Luft zu Schall reagieren zu lassen.

ich nehme an, mit dieser umschreibung für sprache wolltest du übliche verdächtige, wie "lippen, die worte formen", etc. umschiffen. es schickt sich aber etwas ungeschmeidig an: alles, woran mich reagieren & Schall nämlich erinnern sind der physik- und chemieunterricht in der schule, was mich unnötig ablenkt, weil ich daran denken muss, dass es genau genommen stimmlippen sind, die den schall in der luft erzeugen (auch wenn das hochgestochen klingt).
Denn ich hatte die tonlosen Buchstaben bereits von deinen Nerven gepflückt und sie in mich hinein gesogen, damit ich sie anschließend in den Boden meines Kopfes betten konnte. Ich hockte mich neben sie und beobachtete, wie sie keimten, aus der Erde hervor krochen und ihre Blätter entfalteten.

hier begehst du für mich einen fehler: du versuchst etwas subtiles (umschreibung der sprache) noch subtiler zu machen und noch subtiler und hörst gar nicht mehr auf zu saugen, pflücken, betten, hocken,... das ist einfach zu viel weichspü..äh.. zeichner auf einmal und macht mir den prot. unsympathisch, weil zum potentiellen wir-tanzen-unseren-namen-mit-fingerfarben-psycho. hier würde ich einfach kürzen (buchstaben sind übrigens per definitionem tonlos).
den einstieg mit direkter sprache finde ich gut. um es noch interessanter zu gestalten, könntest du die den ersten satz auch gleich weg lassen und dem leser mithilfe der prädiktion des prots suggerieren, was gesagt wurde, da es im zweiten absatz sowieso wiederholt wird.
„Sag mir Bescheid, ja?“, wiederholtest du. Du dachtest, ich hätte dich nicht verstanden, nicht einmal gehört.

der zweite satz mit dieser gewissen klimax gefällt mir gut. "wiederholtest du" ist aber unnötig redundant. auch haben wir hier eines dieser immergleichen präteritumverben (batst, öffnetest, wiederholtest, dachtest, würdest, würdest, solltest, beschwertest, standst, warfst), die die ersten beiden absätze an einigen stellen sprachlich fade machen.
„Sag mir Bescheid, ja?“. Du dachtest, ich hätte dich beim ersten mal nicht verstanden, nicht einmal gehört., wäre mein vorschlag zur güte.
Von dort aus sah ich auch, wie deine Wimpern ineinander griffen, um deine Augen zu schließen, noch bevor dein Vorhaben deine Lider erreicht hatte.

um deine augen zu schließen... wozu sonst? streichen. ansonsten gefällt mir dieses bild.
flüstere ich Deinen Worten in meinem Kopf zu. Sie ruhen noch immer auf meinem Grund, sind verwelkt und müde, aber, wenn ich mich unter sie lege, rascheln sie mir wie an jenem Tag ihren Klang zu.
Und ich glaube, sie können mich auch hören.

hier wieder die gleiche metaphernejakulation wie oben. erst sind die worte im kopf gebettet, dann wird sich danebengesetzt ( oO ), um den leser letztendlich damit zu überraschen, dass es ein wasserkopf ist(ruhen auf meinem Grund). mal werden die worte wie menschen personifiziert (müde, hören), und zwischendurch zu pflanzen degradiert (welken, rascheln). außerdem sehe ich Klang und rascheln als etwaige dopplung, weshalb sie auch einfach nur 'zurascheln' zu bräuchten.
noch etwas: erst verwendest du Worte und dann Wörter als plural. am ende sind es dann noch einmal Worte und im titel steht widerum Wörter. es klänge wohl schöner, das zu vereinheitlichen.

fazit: das was den text tatsächlich stückweise interessant macht, sind die schwer durchschaubare beziehungskiste und die prädiktionen, die eine besondere soziale bindung zwischen prot und du suggerieren. mit dem bilderraum hast du es eindeutig ein wenig übertrieben. von einer sprachlichen gewandtheit könntest du ebenfalls etwas (mehr) gebrauch machen.

soweit erstmal. gruß max
irgendwie
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Re: Entfaltete Worte

Beitragvon Antibegone » Di 12 Mai, 2009 18:49


huhu exmaex :-)

Ich danke dir für die intensive Auseinandersetzung mit meiner Geschichte und dein Kommentieren.

Allerdings stellst du mich vor ein Problem, muss ich sagen. Ich wüsste nicht, wie ich deine Anmerkungen (alle) umsetzen sollte, ohne das Konzept, welches ich zu Grunde gelegt habe, über Bord zu schmeißen.
Es ist nicht so, dass ich deine Vorschläge/ Kritikpunkte nicht sinnvoll fände, aber würde ich sie verwirklichen, wäre es nicht mehr meine Geschichte. Ich hoffe, du kannst das erst mal nachvollziehen?
Damit beziehe ich mich natürlich nur auf deine Kritik, die das Konzept als solches in Frage stellen, nicht die einzelnen Wortverbesserungen etc. Bevor ich spezifischer werde, noch eine kleine Frage zum Verständnis: Was verstehst du unter „flüsterfingertum“? Also klar, ich könnte jetzt raten, spekulieren, aber ich denke es ist einfacher, förderlicher, wenn du es mir kurz sagst, bevor ich in stummer Annahme etwas anderes darunter verstehe als du.

Erst einmal Konzeptionell:

das was den text tatsächlich stückweise interessant macht, sind die schwer durchschaubare bezihungskiste und die prädiktionen, die eine besondere soziale bindung zwischen prot und du suggerieren. mit dem bilderraum hast du es eindeutig ein wenig übertrieben


hier begehst du für mich einen fehler: du versuchst etwas subtiles (umschreibung der sprache) noch subtiler zu machen und noch subtiler und hörst gar nicht mehr auf zu saugen, pflücken, betten, hocken,... das ist einfach zu viel weichspü..äh.. zeichner auf einmal und macht mir den prot. unsympathisch, weil zum potentiellen wir-tanzen-unseren-namen-mit-fingerfarben-psycho. hier würde ich einfach kürzen


Die Geschichte versucht zweierlei zu verbinden: Die unglückselige Beziehung zwischen Ich und du, andererseits diesen Komplex „Wörter“, „Kommunikation“. Wobei mir scheint, dass dir der erste „interessanter“ erscheint. Ich könnte sagen: Vielleicht, ja, Geschmackssache. Aber: Es besteht ein Wechsel aus beiden Komplexen, der die Geschichte – für mich persönlich zumindest – erst reizvoll macht. Mir scheint, die ganzen „Wortmetaphern“ sagen dir nicht zu, sind zu „überladen“ und vielleicht hast du sie auch als ein wenig als „unnötig“ empfunden, weil dich das mit ihnen verbundene Thema nicht so angesprochen hat.
Hier liegt mein Problem. Sollte ich dann aus meiner Sicht die Geschichte „entladen“ und damit reduzieren? Das würde mir wirklich weh tun … Du magst sagen: Myr, du musst es ja nicht ganz streichen – du schlägst ja eben dieses „kürzen“ vor -, eben nur zum Teil. Aber dadurch würde ich die Gewichtung verschieben und gerade die Verbindung der beiden Themen würde ich damit genauso relativieren. Du magst sagen: Myr, du könntest die Beschreibungen auch weniger kitschig und „weichgespült“ gestalten.
Leider muss ich sagen: Diese Geschichte ist schrecklich durchdacht … jedes Bild hat seine Bedeutung. Und würde ich die Bilder ändern, würde sich ähm ziemlich viel anderes mit ändern.
Alles, was ich guten Gewissens tun könnte, wäre Details nachzuarbeiten. Damit möchte ich nicht sagen, dass deine Kritik illegitim sei. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich ihr nach kommen könnte.

So, jetzt zu den Details:

das dir lässt eine stumme umarmung als ersatz für ein gesagtes "auf wiedersehen" vermuten. soweit so gut. wenn das du bereits weg ist... ich - hä?


plötzlicher präsenswechsel, der irgendwie inkonsistent wirkt. auch wenn ich vermute, dass du die zeitlosigkeit des nebendenwortenhockens durch die gegenwart hervorzuheben gedachtest, fände ich es trotzdem besser, auch diesen satz ins präteritum zu katapultieren.


ich verstehe den absatz als übergang von vergangenheit zu gegenwart, aber hier warst du auch etwas schusselig: umarme


Die Zeitenwechsel sind geplant … Vor allen Dingen die Stelle mit dem umarmen. „Ich umarmte dir ein Auf Wiedersehen, auch wenn mir klar ist, dass du schon abgefahren bist.“ Der Abschied findet in der Vergangenheit statt, die Reflexion in der Gegenwart. Ich glaube woran du hängst ist die Formulierung „… dass du schon abgefahren bist.“ Du nimmst das vl etwas zu wörtlich?
Ich glaube das mit der „Zeitlosigkeit“ ist Geschmackssache. Mir persönlich gefällt es gut. Wobei ich natürlich auch verstehe, wenn du es nicht magst.

woran mich reagieren & Schall nämlich erinnern sind der physik- und chemieunterricht in der schule, was mich unnötig ablenkt,


hmm, komisch mich hat es auch an Physik/ Chemie erinnert, aber ich fand es nicht schlimm ...

der zweite satz mit dieser gewissen klimax gefällt mir gut. "wiederholtest du" ist aber unnötig redundant


Jaaa, das könnte man streichen, allerdings.

erst verwendest du Worte und dann Wörter als plural. am ende sind es dann noch einmal Worte und im titel steht widerum Wörter. es klänge wohl schöner, das zu vereinheitlichen.


Lach, ja, das hätte man konsequenter gestalten können …

um den leser letztendlich damit zu überraschen, dass es ein wasserkopf ist(ruhen auf meinem Grund


Grund ist da wirklich etwas unpassend.

Ich werde deinen Vorschlägen so gut nachkommen wie ich kann und ein bisschen verbessern. Alles andere – kann ich mit dieser Geschichte und ihrem Konzept nicht vereinen.

Liebe Grüße,
Myr
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Re: Entfaltete Worte

Beitragvon exmaex » Mi 17 Jun, 2009 10:14


hallo myr,

Es ist nicht so, dass ich deine Vorschläge/ Kritikpunkte nicht sinnvoll fände, aber würde ich sie verwirklichen, wäre es nicht mehr meine Geschichte. Ich hoffe, du kannst das erst mal nachvollziehen?

kein problem, es wäre ja auch dein gutes recht meine ganze kritik abzulehnen. deshalb freut es mich, dass ein paar meiner vorschläge dich für sich gewinnen konnten.

Damit beziehe ich mich natürlich nur auf deine Kritik, die das Konzept als solches in Frage stellen, nicht die einzelnen Wortverbesserungen etc. Bevor ich spezifischer werde, noch eine kleine Frage zum Verständnis: Was verstehst du unter „flüsterfingertum“?

das war nur ein unangebrachter verweis auf eine kritik von winter zu einem apnoetext. ich meinte damit die überladenen metaphern, aber darüber hatte ich mich ja bereits ausgelassen.

Leider muss ich sagen: Diese Geschichte ist schrecklich durchdacht … jedes Bild hat seine Bedeutung. Und würde ich die Bilder ändern, würde sich ähm ziemlich viel anderes mit ändern.
das mag sein. dann hab ich entweder nicht richtig hingesehen, oder es ist zu verkopft, oder es ist einfach nicht mein fall, wie wenn einer, dessen lieblingsfilm transformers ist, plötzlich einen lynch serviert bekommt.

Ich glaube das mit der „Zeitlosigkeit“ ist Geschmackssache. Mir persönlich gefällt es gut. Wobei ich natürlich auch verstehe, wenn du es nicht magst.

ok

gruß max
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Re: Entfaltete Worte

Beitragvon Pio » Sa 27 Jun, 2009 06:52


Morgen Myr`jam,

obwohl das nicht mein Stil ist, obwohl mir Texte überladen mit Metaphern nicht zusagen, hat mich dein Text beeindruckt, Emotionen geweckt.

Ich denke, da kannst du fast nichts ändern, der Text würde seine Wirkung verlieren.

„Es war längst Zeit. Du wusstest es nur nicht“, flüstere ich deinen Worten in meinem Kopf zu. Sie ruhen noch immer auf meinem Boden, sind verwelkt und müde, aber, wenn ich mich unter sie lege, rascheln sie mir wie an jenem Tag ihren Klang zu.
Und ich glaube, sie können mich auch hören.


Diesen Schluß finde ich sehr gelungen.

Gruß

Pio
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Re: Entfaltete Worte

Beitragvon Antibegone » Mi 22 Jul, 2009 12:25


Erst einmal: Entschuldigt meine späte Antwort. Bitte fasst das nicht als Missachtung auf. Ich war in letzter Zeit einfach wo ganz anders ;-) Trotzdem habt ihr natürlich eine Antwort verdient und dem komme ich mit dem größten Vergnügen nach.

Huhu exmaex :-)

Schade, dass es nicht dein Fall ist. Vielleicht sollte ich dir dafür umso danken, dass du dich überhaupt mit der Geschichte beschäftigt hast.
Auch wenn das vielleicht merkwürdig klingen mag, aber solche Kritiken helfen mir auch und ich finde es gut, dass du mir deine Meinung geschrieben hast.

Dank dir.

Huhu Pio :-)

obwohl das nicht mein Stil ist, obwohl mir Texte überladen mit Metaphern nicht zusagen, hat mich dein Text beeindruckt, Emotionen geweckt.


Ähm …. Danke? oO (war das ein Kompliment? )

Nein im Ernst.

Ich finde es äußerst interessant, dass du den Text im Grunde genauso wahrnimmst wie exmaex. Aber ihm trotzdem etwas abgewinnen hast, dass er dich sogar in gewisser Weise berühren kann. Das ist eine wirkliche spannende Rückmeldung.
Ich freue mich sehr über deinen Kommentar und auch, dass du den Schluss gelungen findest.

Vielen Dank und liebe Grüße,
Myr
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