Alle Gedichte, die in keine andere Kategorie passen

Re: sandmann, 1936

Beitragvon Drehrassel » Do 25 Sep, 2008 11:48


zu diesem text - wohl jüngst-jüngeren entstehungszeitpunkts (?) - gab ich kürzlich bereits, in einem anderen forum für literatur, einen kurzen kommentar ab. inwiefern sein thema möglicherweise etwas zu gesucht, zu gewaltsam heran gezogen wirken mag, darüber möchte ich mich nicht weiter auslassen. bemerkenswert scheint mir seine formale struktur, welche dem metrisch gebildeten leser ohrenfällig macht, mit welchem künstlerischen bewusstsein die autorin hier gearbeitet, komponiert haben könnte, und wie das zu bewerkstelligen sei, wovon so oft geredet wird, nämlich ein dialektisches verhältnis älterer, neuerer und gegenwärtiger dichtungstheorien und -praktiken deutschsprachiger lyrik durch gezielte (wieder-) aufnahme und -lösung tradierter schemata im bemühen um eine "einheit der musik der worte und ihrer bedeutung" (emil staiger) in jedem einzelnen vers, sowohl als auch im zusammenspiel aller verse, fruchtbar werden zu lassen. so korrespondiert die häufung von ein- und zweisilbigen worten, dadurch dass sie in längeren reihen, satzteilen und syntagmen vorkommen, welche als ineinander geschobene und sich voneinander abstoßende einheiten alternierender maße konzipiert scheinen, mit ihren semantischen bezügen: "schwachsinn ticken uhren, onkel und dein beil": ein langer bogen, der über viele metrische und rhyhtmische brüche durch hebungsprall, synaphien wie asynaphien führt bis hin zum finalen:" tick tack / bleiben spuren", der durch den sehr weit gespannten binnenreim uhren-spuren, nur desto versierter und ebenso abgeschlossener wirkt. an inhaltlich mir wichtig erscheinenden stellen wieder platziert die autorin drei und viersilbige worte, welche, unterstellt man dem gesamten gefüge eine tendenz zum regelmäßigen wechsel von hebungen und sekungen, eine abstufung von leichteren bis schwersten tonbeugungen ("drehscheibe"! - grandios gemacht!) generieren.
insgesamt mutet mir dieses gedicht an wie ein sampling fast verklungener moritaten über "onkelchen tick tack", ein leises erinnern an ins kollektive bewusstsein gedrungene liedstrophen, ein gebrochener und doch stringent vorgetragener bänkelsang...

soviel erstmal dazu. gern gelesen,
drehrassel
dreimal selig, wer einen namen einführt ins lied!
- ossip mandelstam
Benutzeravatar
Drehrassel
Stammuser
Stammuser
 
Beiträge: 791
Registriert: Mi 17 Sep, 2008 12:27
Eigene Werke
 

Re: sandmann, 1936

Beitragvon MORDS TUSSI » Sa 04 Okt, 2008 16:11


hallo rubin

ich hatte ja schon andernorts ein paar zeilen hierzu geschrieben, die doch sehr polemisch ausfielen. ich möchte nun noch mal ohne polemik einen zweiten anlauf nehmen und zeigen, wie im gedicht etwas aufblitzt, dass du sicherlich so nicht intendiert hast.

1936 - das zentrale ereignis in nazideutschland war die austragung der olympischen spiele in der reichshauptstadt berlin. die welt sollte "gast bei freunden" sein und deutschland gab sich weltoffen. während der spiele galt es, den terror gegen juden und andersdenkende kurzerzeit einzufrieren und nicht an die öffentlichkeit dringen zu lassen. nazideutschland streute 1936 der welt sand in die augen, damit es den blick für die wahren verhältnisse verschleiert.

ich weiß aus deinen ausführungen, dass du einen massenmörder im sinn hast, der 1936 zwölf kinder/jungen ermordet hat (oder so ähnlich).
12 jahre dauerte zum glück nur das auf 1000 jahre angelegte 3.reich. der sandmann hat das dutzend mal eben voll gemacht.

ich möchte damit nicht deinen text grundsätzlich ablehnen, weil dieser aspekt auch kritisch gelesen werden kann. vielmehr möchte ich zeigen, dass wenn man "1936" schreibt, dieses datum nicht jenseits historischer kontexte benutzen kann. du hast dich ja, was das anbetrifft doch recht ahnungslos gegeben. aber ich unterstelle dir jetzt mal, dass dir bekannt ist, dass 1936 in deutschland der nationalsozialismus herrschte.
meine frage war daher: was ist der anspruch der autorin ein gedicht zu schreiben, der von einem "massenmord" handelt, der vor der reichsprogromnacht und vor der wannenseekonferenz, sprich bevor der massenmord an den europäischen juden endgültig beschlossen wurde, stattfand (was nicht heißt, dass nicht auch schon vorher terror gegen juden herrschte). was ist das interesse, diesen text zu schreiben?

meine antwort war: dass es neben dem ganzen "schwachsinn" auch noch anderen "schwachsinn" gab, dass es neben den "großen psychopathen" auch noch "kleine, gewöhnliche psychopathen" gab, dass es trotz des ganzen "wahnsinns" auch noch ganz "normale pathologien" gab, die ebenfalls verbrecherisch und mörderisch waren. und letztendlich, dass die ausnahme die regel bestätigt, dass deutschland im nationalsozialismus im grunde eine "ganz normale gesellschaft" mit "ganz normalen verbrechern" war und nur ein kleiner teil, nämlich hitler und seine handvoll helfer die wahnsinnige idee hatten europa endgültig judenfrei zu machen.
diese sichtweise ist schlimm, weil sie die damalige struktur der gesellschaft innerhalb des nationalsozialismus als volksgemeinschaft verkennt und verharmlost. die deutsche bevölkerung hat eben nicht apathisch reagiert, sondern im großen stile eifrig bei der deportation der juden mitgeholfen. und letztendlich, weil sie die verbrechen lediglich pathologisiert und so die gründe für den massenmord an den juden ausblendet.


grüße
MORDS TUSSI
GOING LOCO DOWN IN ACAPULCO (The Four Tops)
MORDS TUSSI
Etabliert
Etabliert
 
Beiträge: 277
Registriert: So 14 Sep, 2008 20:36
Eigene Werke
 

Zurück zu Strandgut

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 8 Gäste

cron