Alle Gedichte, die in keine andere Kategorie passen

märkte & türme

Beitragvon OlafmitdemTraktor » Mo 07 Sep, 2009 16:33


noch halten wir uns
lockt der marktschrei zu oft
unsere federn verworfen für eine handvoll
ungedecktes schlängelt die stadt
und würgt an ihren türmen
gefüttert von unseren fragen
werden wir bleiben
verloren im kleinen
frieden
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Re: märkte & türme

Beitragvon Le_Freddy » Mo 07 Sep, 2009 20:51


hallo trekkermann!

Ich versuche mich mal wieder an einer disziplin die ich schon längere zeit nicht mehr trainiert habe. also hoffe ich natürlich, dass ich was fruchtbares hervorbringe.

"märkte&türme" -der titel- wollte mir zunächst nicht viel mitteilen später dann aber erinnerte ich mich an eben diesen und begann zu verknüpfen was zusammen passt.
eingangs ein "noch halten wir uns" - stimmt wenig hoffnungsvoll, aber verrät doch schon viel von der prekären lage in der "wir" "uns" befinden, die aber unüberschaubar und so unberechenbar ist. die situation wirft fragen auf (zeile 6).
"uns / lockt der marktschrei zu oft" aber bei allen fragen kennen "wir" immerhin den grundfür "unsere" lage: versuchung. und "wir " wissen auch was diese situuation ausmacht: dass unsere federn abhanden kamen - für "ungedecktes".

so weit so gut. das errinnert meineneinen doch schwer an ein gedicht über die vielbesungene finanzkrise. im weiteren verlauf kommt es aber nicht zu schuldzuweisungen oder gar gejammer (bis auf - na, komme ich noch zu). soweit also erfrischend. vielmehr wird beschrieben wie "die stadt", also die gesellschaft, die verurteilten ("die türme") also die banken unter druck setzt. (es ist erstaunlich wie sehr ich hier an frankfurt denke) und man empfindet mitleid mit den verurteilten immer hin lockte doch "uns" "der marktschrei" und "wir" haben alle mitgemacht. - ein klassischer sündenbock, die bank.

und dann ein fazit. unsere fragen, werden offen bleiben und das einzige sein was uns bleibt nach DER KRISE. durch die wir "verloren" sind und hier kommen wir zu dem punkt gejammere. natürlich nur oberflächlich als solches zu interpretieren, nachher dann eher ein "selbst schuld". aber mir dennoch ein dorn im auge. der untergang des abendlandes ist doch etwas zu viel. immerhin steht doch schon zu beginn, dass der marktschrei zu oft ruft, das lässt auf periodizität sschließen, also ist "verloren" sein nicht drin, denn es wird sicher weiter gehen - selbst wenn es nicht die marktwirtschaft wäre.
außerdem gefiele mir der schluß ohne die letzte zeile weit besser. dann gingen "wir" dämlich verduzt mit blauem auge aus DER (ohmeingott) KRISE heraus, ohne begriffen zu haben was geschehen ist. - (und um wetten abzuschließen genau darauf wird es hinauslaufen.) - das gedicht wäre dann also viel entlarvender.

an dieser stelle verzichte ich darauf weitere metaphern aufzulösen, zu zerbrösen, zu zerstören.

insgesamt gefällt mir die struktur, des textes. das liest man wohl gerne, auch wenn ich jetzt nicht so viel text herausholen konnte wie ich gewollt hätte (und das liegt wohl eher an meiner langen pause, als an deinem text. - ich gelobe besserung) verbleibe ich

amicalement
le fred

bis zum nächsten mal!
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Re: märkte & türme

Beitragvon Perry » Di 08 Sep, 2009 13:55


Hallo Olaf,
ich denke ähnlich wie Freddy, dass du mit deinen Zeilen etwas zum Umgang des "wir" mit der oder den Krisen des Weltwirtschaftssystems ausdrücken wolltest. Zuerst das was mir gefällt, das ist die Schlusserkenntnis: "gefüttert von unseren Fragen bleiben wir verloren." Nun ich denke zwar, das wir noch lange nicht verloren sind, aber das wir uns zuviel mit uns beschäftigen und zu wenig darüber nachdenken, was wir tun könnten, um die Märkte und Türme in unserem Sinne zu beeinflussen.
Was mir weniger gefällt ist der eher steinzeitlich gefärbte Mittelteil mit verworfenen (warum nicht, wenn schon davon schwimmenden?) Fellen und schlängelndem Gewürge, da stellst du das wir doch etwas zu negativ dar.
LG
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Re: märkte & türme

Beitragvon OlafmitdemTraktor » Di 08 Sep, 2009 14:45


hallo freddy, hallo perry (welch schöne anrede :D ) ,

danke für eure gedanken zum text.
relativ schnell springt wohl hier die aktuelle "wirtschafts-und finanzkrise" ins auge.
doch verweist die textliche klammer von "noch halten wir uns" und "bleiben wir" auch auf eine partnerschaftliche deutungsvariante( zwar versteckt aber intendiert).
so wäre dann das zerlegte sprichwort "sein fell zu markte tragen" im sinne von "verantwortung auf sich nehmen mitsamt den folgen" lesbar und bildete sozusagen den mittelteil dieser auf zwei menschen heruntergebrochenen leseart.
das wort "verloren" scheint sich sehr gut anzubieten, über den wirkungsgrad der misere und allgemeingesellschaftliche prognosen sowie wirtschaftssystemszukunftsaussichten zu sinnieren.
man könnte "verloren" aber auch auf einer höheren ebene als ausdruck unseres dauerunbefriedigtseins in materiellen dingen wie in persönlichen (partnerschaftlichen) bereichen lesen. und noch höher gerechnet als eine existentielle verlorenheit. ohne halt in einer stadt mit türmen. und letztendlich verloren in eigener triebhaftigkeit, deren impulse in die gemeinschaft getragen wiederum von ihr befriedigt werden mit dem bleibenden grundgefühl am ende fehlt doch noch etwas.
@perry: "seine felle fortschwimmen sehen" war nicht meine intention, hier war gemeint "sein fell zu markte tragen"
ich denke, ein großteil der uns heute geläufigen sprichworte kommt aus dem mittelalter. ich sehe hier keine bedeutungsferne oder antiquiertheit. im wort "schlängeln" steckt das gleichnamige, im verhältnis zur eigenen körpergröße riesenhafte beute verschlingende, tier, welches auch gern als synonym für versuchung und täuschung gesehen wird (siehe biblischer sündenfall). meines erachtens von daher bestens geeignet hier im gedicht sein unwesen zu treiben.

@freddy: frankfurt ist keine weither geholte assoziation

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Re: märkte & türme

Beitragvon Le_Freddy » Di 08 Sep, 2009 19:52


"frankfurt ist keine weither geholte assoziation"
achso. na dann...

was ich sagen wollte ist, dass "von der stadt gewürgte türme" einfach schwer auf Frankfurt zutrifft, und da eben dort so viele banken stehen, es also warscheinlich ist dass der autor sich diese stadt zum vorbild nahm, halte ich die stadt für gut beschrieben/getroffen.

Ja stimmt allerdings die Partnerschaft schimmert durch allerdings nur schwach, da der "markt" zu exponiert und in der gegenwärtigen medienlandschaft zu präsent ist, als dass man sich als leser nicht nur auf eben diese eine lesart beschränkten möchte.
im zusammenhang mit partnerschaft finde ich "ungedecktes" im übrigen sehr schön - expressionistisch "schön".

zum "verloren" sein, als ein nicht auffindbar im (teils) selbstgeschaffenen chaos - (verstehe ich richtig) - erscheint mir dennoch zu groß und zu bestimmt. liessest du es weg, bliebe ein "gefüttert von unseren fragen /
werden wir bleiben" da würde nicht mehr "unser" zustand erklärt sondern schlichtbeschrieben. es existierte abschließend also kein urteil mehr - vielleicht weil das lyr ich vom urteilen abstand genommen hat, nach dem was es zuvor an fehlurteilen beschrieben wird. die nichtexistenz des eines urteils spiegelt dann doch auch die (schon vom lyr ich) vermutete nicht eintretende gerechtigkeit.
dazu bliebe der leser ohne abschließende erklärung fragend zurück, was einmal den inhalt wiederspiegelt und zweitens (und das ist nebenher ein guter effekt, den lyrik haben sollte) den leser weiter zum nachdenken anregen wird.

übrigens:
ich fand "federn" statt "felle" besser. da steckte einfach mehr mit drin.

mfg
fred
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Re: märkte & türme

Beitragvon OlafmitdemTraktor » Di 08 Sep, 2009 22:39


hallo le freddy,
ich kann deiner argumentation gut folgen, dass der abschluß des gedichtes zu bestimmend durch das wort "verloren" daherkommt. hier steckt zu viel wertung und richtungsgabe darin.
das "verloren" am ende in existenzieller weise zu sehen gibt die vorherige laufrichtung des gedichtes auch nicht so ganz her. da war der wunsch vater des gedankens. also streiche ich das "verloren".

felle hatte ich zunächst anstatt der federn gewählt, um oben erwähnten sprichwort näher zu kommen. jedoch "federn lassen", das auch flugunfähigkeit implizieren würde, also fluchtuntauglichkeit, das hätte auch seinen reiz. da muss ich nochmal überlegen.

vielen dank fürs eintauchen in den text und hilfreichen kommentar.

lg OmdT
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Re: märkte & türme

Beitragvon Drehrassel » Mi 09 Sep, 2009 12:46


naja gut. der eine mag hier an babylon, der andere an frankfurt am main denken... / mir persönlich sagt eine solche art von lyrik nicht so sehr zu. es werden ein paar anspielungen gemacht, eins zwei ausdrücke, die an biblisches verweisen, ein bisschen aufgedröselte sprichwörtlichkeit, ein wenig umgangssprachlichkeit plus expressionistischem duktus (übrigens nicht in "gedecktes"... sondern sehr viel eher in im "schrei", im schlängeln der stadt und den "gewürgten" türmen... / wirkliche metaphern von zwingender literarizität sehe ich hier so gut wie keine. "marktschrei" z.b., das ist mir zu ausgelutscht. beinahe lexikalisiert. -
ansonsten wimmelt dein text, olaf, von verben. da wird "gehalten", "gelockt", "verworfen", "geschlängelt", "gewürgt", "gefüttert" und "geblieben". gleichzeitig wird ein wenig verwirrspiel um die tragenden substantive gemacht, welche aber auch relativ brav regelmäßig in großer nähe zu ihren grammatischen "taten" und "untaten" stehen. dabei greifst du auf eine reihe von personifikationen zurück, die mir teils unspannend ("marktschrei lockt"), teils zu wirr und poetisch überambitioniert erscheinen (die stadt schlängelt und würgt - gefüttert von "unseren" - vorsicht mit dem personal-pronomen der 1. person plural in gedichten! ich zumindest mag das in den seltensten fällen - fragen an ihren türmen. naja naja... das klingt mir leider viel zu pseudo-prophetisch. als ob sich da ein sprecher nicht hat entscheiden können, ob er etwas erklären oder verdunkeln, hermetisch habe machen wollen. dabei eine viel zu pathetisierende sprache. ich lese das als eine parodie. als eine art psalmodierendes pastiche einzelner expressionistischer autoren. alles in allem klingt mir das wie das gebrabbel eines müde gewordenen und unter alkohol einfluss stehenden manic street preachers. - hier bei mir in frankfurt (:D ) gab es mal einen, der hielt ähnliche reden überall wo er ging und stand. man sah ihn auf dem campus, in den u- und straßenbahnen, vor irgendwelchen supermärkten und und und... was aus dem wohl geworden ist?

gruß,
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Re: märkte & türme

Beitragvon OlafmitdemTraktor » Mi 09 Sep, 2009 15:40


hallo drehrassel,
danke für deine in sich stimmige argumentation, weshalb dir das gedicht nicht gefällt.
das gedicht zerfällt unter deinem messer in seine bestandteile.

ich habe mir folgende checkliste erstellt:

1. keine metaphern von zwingender literarizität / ja
2. wenn, dann ausgelutscht, lexikalisiert / ja
3. viele verben / ja
4. unspannende personifikationen / ja
5. pseudoprophetisch / ja
6. pathetisierende sprache / ja
7. ein paar anspielungen / ja
8. ein paar biblische verweise / ja
9. ein bisschen umgangssprachlichkeit / ja
10.ein wenig expressionistischer duktus / ja
11.ein wenig aufgedröselte sprichwörtlichkeit / ja
12. verwirrspiel um die tragenden substantive / ja

jetzt unabhängig von der (vernichtenden) kritik und meinem vielleicht leicht ironischem unterton (ironie aus) denke ich, dass du hier sehr gut die zutaten beschreibst, welche in einem großteil meiner bisherigen gedichtversuche verbacken wurden.
was fange ich aber damit an? nun, das werde ich sehen, das nach-denken braucht ein wenig zeit.

alles in allem klingt mir das wie das gebrabbel eines müde gewordenen und unter alkohol einfluss stehenden manic street preachers. - hier bei mir in frankfurt (:D ) gab es mal einen, der hielt ähnliche reden überall wo er ging und stand. man sah ihn auf dem campus, in den u- und straßenbahnen, vor irgendwelchen supermärkten und und und... was aus dem wohl geworden ist?


bei dieser im schlußsatz doch emotional eingefärbten replik bin ich mir nicht sicher, ob hier mit einer doch höheren prozentquote auf das bild der person, die der rezensent hinter dem gedicht wähnt, gezielt wird, oder ob dies letztendlich nur dem ewigen kampf "stadt gegen dorf" geschuldet ist.

Hildegard würde sagen: Pseudoprophet, wusste ich's doch, was immer das auch ist, sicherlich niemand, der fleißig seine Arbeit verrichtet; also Olaf.

grüße von olaf mit frischeingesegnetem traktor
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Re: märkte & türme

Beitragvon Drehrassel » Mi 09 Sep, 2009 16:12


8o

jessesjessesjesses! egal wie sehr du durch DEINEN schlusssatz nun wieder liebenswerterweise versuchst, das, was du aus meinen wort heraus gelesen zu haben, zu ironisieren... nie-mals! habe ich mit all dem was ich oben schrieb etwas über meine vermutungen sagen wollen, welche persönlichkeit als autor hinter deinen zeilen stehen könnte! das ist ja ganz furchtbar, wenn du das glaubst! - abgesehen davon, dass ich das nicht tun würde, sowieso (denn das interessiert mich überhaupt nicht, solange wir uns nicht persönlich kennen; dann schon. aber auch und gerade dann würde ich ein solches wissen NICHT in einen kommentar hier bringen!) ... ging es mir, wenn schon! darum, vermutungen über ein textaussage-subjekt an zu stellen, was ja nun NICHT sehr viel mit dem AUTOR eines textes zu tun haben muss. / tatsächlich frug ich mich sogar, ob dein gedicht nicht eines jener sorte sein sollte, zu dessen auslegung und interpretation diese frage nach der gestalt eines textsubjekts und dem spiel mit der damit verbundenen - und einfach nicht aus den köpfen der menschen bringenden - frage nach der "authentizität" eines literarischen werks, als hauptaugenmerk zu betrachten sein dürfte. - entschuldige olaf, aber das habe ich nicht erwartet. ich wollte dich in keinem fall etwa beleidigen. nicht einmal dein schrifstellerisches talent wollte ich in abrede stellen. verdammt nochmal, was glaubst du, was ich glaubte, wer ich sei? - ich muss jetzt erstmal wieder runter kommen. vielleicht melde ich mich nochmal... o weh! was hab ich nur wieder geschrieben?! -

edit:
[quote="Drehrassel":3tob9it5]... das klingt mir leider viel zu pseudo-prophetisch. als ob sich da ein sprecher nicht hat entscheiden können, ob er etwas erklären oder verdunkeln, hermetisch habe machen wollen. dabei eine viel zu pathetisierende sprache. ich lese das als eine parodie. als eine art psalmodierendes pastiche ... [/quote]

in diesem zusammenhang bitte ich dich die in meinem kommentar auch direkt darauf folgenden sätze:.
[quote="Drehrassel":3tob9it5] alles in allem klingt mir das wie das gebrabbel eines müde gewordenen und unter alkohol einfluss stehenden manic street preachers. - hier bei mir in frankfurt (:D ) gab es mal einen, der hielt ähnliche reden überall wo er ging und stand. man sah ihn auf dem campus, in den u- und straßenbahnen, vor irgendwelchen supermärkten und und und... was aus dem wohl geworden ist? [/quote]

zu verstehen. das wäre mir ganz lieb.
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Re: märkte & türme

Beitragvon OlafmitdemTraktor » Mi 09 Sep, 2009 16:33


sofortige entwarnung. was du geschrieben hast, nenne ich eine gute kritik, auch wenn ich nicht gut dabei wegkomme, ich meine natürlich mein gedicht. ich mag die analytische und punktgenaue herangehensweise und ich kann längerfristig sicherlich etwas damit anfangen.
nur beim schlußsatz zog eine kleine wolke vorüber (du siehst, die eigene ironie offenbart auch ab und zu löcher), deren schnelles verschwinden wir gerade beobachten durften.

hildegard und olaf
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Re: märkte & türme

Beitragvon Drehrassel » Do 10 Sep, 2009 09:14


gut. ich habe auch eine checkliste:

1. gute kritik / nein, reine meinungsäußerung
2. analytisch / vielleicht in ansätzen, eher: nein
3. punktgenau / was immer man darunter verstehen mag. vielleicht.


hallo olaf (und hildegard),
zunächst einmal: was wäre denn grundsätzlich daran so falsch, das "gebrabbel eines alkoholisierten straßenpredigers" in der literatur ab zu bilden? sollte ich tatsächlich im umgang mit der dichtung etwas ganz prinzipiell missverstanden haben, sodass die bloße festlegung eines autors auf ein bestimmtes sujet in seinem text allein schon über die qualität eben desselben entscheidenden einfluss nehmen könnte? - "nein nein, selbstverständlich nicht!", das ist leicht zu zugeben, nicht wahr? schon sehr viel weniger leicht, zu erkennen ist aber etwas, wovon man meint, dass es als das wesentlichste merkmal einer bestimmten gattung der literatur, nämlich der lyrik, zukäme: dass sie gerade nicht "seelenhaft erinnerte aussage", "persönliches gestimmtsein und fühlen" [otto f. best, "handbuch literarischer fachbegriffe"] oder "die vorstellung, lyrik sei der adäquate ausdruck des inneren lebens des subjekts, das heißt zunächst des dichters selbst" [dieter burdorf in "einführung in die gedichtanalyse" über den "begriff der authentizität lyrischen sprechens", so wie er vor allem im 19. jahrhundert durch goethe und hegel in dessen ästhetik-vorlesungen geprägt wurde; bezeichnenderweise im kapitel 5.3.1. "drei problematische kategorien: erlebnis, stimmung und lyrisches ich"] sein müsse, wofür allerdings bereits eine schier unüberschuabare menge literarischer zeugnisse und er-zeugnisse sowohl vor als auch nach dieser für die europäische poetik so prägenden epoche und ihrer überragenden intellektuellen figuren spricht. bis in 20. jahrhundert hinein tranportiert wurden diese ideen aber durch eine reihe von in einer "idealistischen" traditionslinie stehenden germanisten, welche - auf margarete susmanns begriff vom "lyrischen ich" rekurrierend, ihn aber auch "romantisierend" um seine eigentliche analytische funktion bringend - zumindest eine sehr große nähe von "ausgedrücktem ich" und real empirischen autor behaupteten, und zwar schon darin, dass "das erlebnis <fiktiv> im sinne von erfunden" sein könne, aber dass dennoch "das erlebnis- und mit ihm das aussagesubjekt, das lyrische ich" niemals als ein fiktives vorgefunden sein könne [käthe hamburger]. /

aber lassen wir dieter burdorf noch einmal kurz zu wort kommen:"in moderner sprachexperimenteller lyrik schließlich hat die rede von einem "erlebnissubjekt", das mit dem autor zu identifizieren wäre, am allerwenigsten sinn: [und er zitiert ernst jandls gedicht "calypso"]

ich was not yet
in brasilien
nach braslien
wulld ich laik du go


- niemand wird ernsthaft behaupten wollen, in diesen radebrechenden sätzen eines möchtegern-touristen spreche der promovierte englischlehrer und sprachvirtuose schriftsteller ernst jandl selbst."

/ und dem habe ich eigentlich nichts mehr hinzu zu fügen.
gruß,
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edit: aber nun vielleicht mal wieder zurück zum text. das hat er, denke ich - der text! - verdient...
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Re: märkte & türme

Beitragvon OlafmitdemTraktor » Do 10 Sep, 2009 11:28


hallo drehrassel,

noch einmal einige gedanken von mir, wobei ich das gedicht sozusagen in den mittelpunkt rücke und auf der einen seite den rezensenten, auf der anderen seite den autoren sehe, um dessen "empfindlichkeiten" soll es gehen.
lyrik nicht als adäquaten ausdruck der inneren stimmung, befindlichkeit des autors anzusehen, darüber gibt es wohl konsens.
für mich stellt sich nun in der beschäftigung mit dem mir fremdgewordenen text (nach schriftlicher fixierung) die frage, wie viel abstand der autor (ich) selbst spürt und wie viel nähe er selbst ertragen kann.
sind die erlebnisfelder und die subjektiven textvorgänge immer ein hineindenken des autors in konstruierte situationen [in denen aber auch kein restlos abgekoppeltes „ich“ agiert], so kommen sie aber doch aus seinem immer auch begrenzten fundus, dessen grenzen selbst auch seine eigenen sozialen felder sind und deren möglichkeiten und unmöglichkeiten einer kulturellen prägung sowie eigener biografischer determination unterliegen. das ist, so finde ich, ein spannender prozess, von daher war die von mir aufgrund deines kommentares erstellte checkliste gar nicht so sehr im ironischen angesiedelt, als dass ich hier mein oftmals unbewusst benutztes instrumentarium aufgezeigt bekam, in dessen folge ich durchaus einen anderen blickwinkel auf die nähe und distanz- tarierung zum eigenen text einnehmen konnte. „auf der suche nach mir selbst“, das wäre wohl mehrere kategorien zu hoch gegriffen, aber zumindest einige immer auch in der dichtung zu erlebende vor-oder grundprägungen [welche sujets werden gesucht und mit welchen zutaten bearbeitet] des autors, können, und das ist wahrscheinlich vorrangig ein autorenproblem , ansichtig werden und mit dem autoren selbst korrespondieren, nachdem ein leser sich mit seinem text [natürlich auch nur aus seinem „so-sein“ heraus] beschäftigt hat.

ich denke, die sich hier gegenseitig entwickelnden gedanken haben durchaus etwas mit dem text zu tun, gerade weil sie sich anhand des textes entwickelt haben, und etwas auszusagen vermögen über nähe und distanz des autoren zu seinem text sowie der frage nach dem „wie viel von welchen ich-teilen“ [ich spreche von teilen oder sprengseln ] der autor zulässt [dies in einem bewußten prozess-so weit dies überhaupt möglich ist] , und wieder erkennen mag [gerade nach überwiegend unbewußten abläufen], nachdem es ihn verlassen hat in verschlüsselter form.
das es sich hier immer wieder auch um einen grundsätzlichen prozess des schreibenden handelt, brauche ich nicht zu erwähnen.

grüße von OmdT


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