Geschichten zum Thema Alltag

Schneematsch (für Le Freddy)

Beitragvon Garfield » So 03 Jan, 2010 22:35


Möglichst normal aussehend schlenderte Ben langsam durch die Regalreihen. Klebrig süße Weihnachtsmusik begleitete ihn auf seinem Weg. Lustlos sah er sich um, auf der Suche nach einem Geschenk. Von allen Seiten sprang ihn Plunder an der gekauft werden wollte, meistens in leuchtendem Rot, so als wolle er seine Weihnachtlichkeit beweisen. Als er an einem Karton dämlich grinsender Schokoladenweihnachtsmänner vorbeiging, riss er einem den Kopf ab und verteilte den schwarzen Inhalt über den Boden. Er kam an einem älteren Pärchen vorbei. Sie schauten interessiert auf eine Kiste mit Massagemarienkäfern.
„Guck mal Schatz, nur fünf Euro das Stück!“
„Damit haben wir doch was. So einen können wir Mutter, Oma und Elisabeth schenken.“
„Ach für Susanne und Paul wäre das sicher auch was. Lass uns einfach ein paar mitnehmen, dann sind wir auch bald fertig.“
Der Mann griff tief in die Kiste und packte eine ganze Reihe der schwarz gepunkteten Käfer auf seine speckigen Arme. Als er zur Kasse gehen wollte, gab Ben ihm einen Stoß. Der Mann stolperte, konnte sich im letzten Augenblick fangen, doch ließ er dabei alles fallen.
„Ungezogener Bengel, kannst du nicht aufpassen?“
„Entschuldigung“, murmelte Ben und trat gleichzeitig den Käfer den der Mann gerade aufheben wollte unter eines der Regale. Nun wollte auch die Frau auf ihn losgehen und eine Verkäuferin kam hinzu. Hier war nichts mehr zu holen. Ben ließ die schimpfenden Leute einfach stehen und ging in den nächsten Geschenkladen. Gleiche Etage, nur drei Türen weiter, gleiche Waren.
Bunte Süßigkeiten aller Art, Weihnachtskalender, Stofftierchen, dämliche Karten, schlechte Bücher, die sonst niemals jemand kaufen, geschweige denn lesen würde, nur zum Verschenken waren sie geeignet, Sternchen, Engelsfiguren, Massagekäfer.
Ihm war es jetzt egal, irgendein Geschenk musste her. Seine Wahl fiel schließlich auf eine Tasse mit Namenszug, dem seiner Mutter. Ein kurzer Blick zur Seite, ein geübter Handgriff und schon steckte sie in seiner Jackentasche. Unauffällig ging er hinaus. Vorbei an Dutzenden weiteren Geschäften und Hunderten Menschen verließ er das Einkaufscenter und betrat die Straße.
Als er vorhin hineingegangen war, hatte es gerade begonnen zu schneien. Nun war der gesamte Straßenzug weiß verziert. Es war dieser reine Neuschnee, noch nicht zertrampelt von etlichen Füßen oder zu braunen Matsch verkommen durch Autoreifen.
Ben konnte sich nicht erwehren, die Welt sah friedlicher, Weihnachten erträglicher aus. Eine fröhliche Familie zog an ihm vorbei, der Junge fragte seine Mutter, ob der Weihnachtsmann auch wirklich wisse wo er wohnt. Selbst die Budenverkäufer schienen weniger missmutig ihre potenzielle Kundschaft zu betrachten.
Kalt fühlte sich mit einem Male die Tasse in Bens Jacke an, die er noch immer mit der Hand umschlossen hielt.
Sein Blick streifte einen Penner auf der anderen Straßenseite. Er saß unverändert wie es schien am selben Platz, wo Ben ihn vorhin bereits bemerkt hatte, lediglich die schwarze Jacke etwas fester um den Körper gezogen. Ein Mann kam aus dem Laden, vor dem er saß. Ben konnte nicht hören was er sagte, doch verstand er die herrischen Gesten. Der Penner stand langsam auf und trottete ziellos davon.
Ben schimpfte sich einen Trottel. Nichts hatte sich geändert. Er zog die Hand aus der Tasche und die Kapuze über den Kopf. Als er ging versuchte er zu lächeln. Er musste üben, damit es morgen Abend echt aussah.
Kurz, er bewies eine Geduld, vor der die hölzern-gleichmütige Geduld des Deutschen, die ja auf dessen langsamer, träger Blutzirkulation beruht, einfach gar nichts ist.
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Re: Schneematsch (für Le Freddy)

Beitragvon Le_Freddy » Di 05 Jan, 2010 01:21


nabend

dann nutze ich mal das privileg des wichtelopfers und kommentiere mein geschenk als erst0r.
"ich wollte aber ein pony haben!"
nein, weihnachten ist ja vorbei.
das erinnert mich an eine kurzgeschichte, die ich mal in der elften (also ja noch garnicht soo lange her) für unsere weihnachtsfeier in englisch schrieb. die war total scheiße. keine sorge, das ist nicht der grund warum sie mich daran erinnert. meine geschichte bestand eben aus möglichst vielen negatverlebnissen eines kleinen waisenkindes in der adventszeit - und niemand half dem armen wicht. ja, es ging mir darum weihnachtsstimmung zu zerstören, oder zumindest in frage zu stellen.
mir ist hiermit also meine geschichte aus anderer perspektive und besserem stil wieder begegnet. das ist so als hättest du, ohne dass ich mir es explizit gewünscht hätte, mein spielzeug repariert!

Möglichst normal aussehend schlenderte...

irgendwie hab ich immernoch das gefühl, dass ich das sein soll. (wenn ich mich an die konsequenzen meines ersten avatars erinnere... ;)
aber das nur nebenher. (ist ja gut, ich beschäftige mich ja schon mit dem text. - aber ich bin was kurzprosa angeht weder sonderlich bewandert, noch eingelesen.)

Möglichst normal aussehend schlenderte Ben langsam durch die Regalreihen. Klebrig süße Weihnachtsmusik begleitete ihn auf seinem Weg.

das "möglichst normal aussehend", über das ich anfangs kurz stutzte / schmunzelte ergibt sinn. die atmosphäre, baut sich sprunghaft mit der klebrig süßen wm auf. ziemlich intensiv. will sagen, da kommt ein ganzer schwall an assoziationen und auch emotionen hoch, die wir alle kennen und die zeitlich noch nicht sehr lange zurückliegen. manch einem, auch mir, fällt es in solchen situationen schwer nicht ähnlich schwallartig seinen magen zu entleeren. und da wissen wir auch schon was ben zu beginn tut wenn ehr sich mühe gibt normal auszusehen: er tut mal kurz so, als sei er nicht da, er will nicht mitmachen und das weihnachtsfieber mit anheizen, will die menschen aber auch nicht desillusionieren / vor den kopf stoßen.
insoweit sehr schön formuliert.

nächste szene; ich nenne sie mal:
eine Kiste mit Massagemarienkäfern

hier reichts unserem (zumindest meinem) helden dann, er muss protest äußern, es gäbe mit sicherheit elegantere wege als herum zu rempeln, aber dann wäre es nicht drastisch genug für die geschichte. massaaaagemariiiiienkääfer....
nachvollziehbar. (fein finde ich auch die art wie und wo du die dinger im folgenden verwendest.)

auch die methode einen überaus einfallslosen geschenkartikel zu stehlen, um dem konsumzwang zu entgehen (besser: ihn zu umgehen), ist nicht gerade ehrenwert, aber wohl wieder ein mehr oder weniger spontaner protest meines (ich hab in ja geschenkt bekommen; vllt aber auch unseres) helden.

so, wir nähern uns dem höhepunkt.
die Welt sah friedlicher, Weihnachten erträglicher aus

ja, man könnte sich ja fast doch noch mit weihnachten arrangieren, weil schnee, weißer schnee gefallen ist, der allen schmutz unter sich versteckt.
hier beginnt nun sein drama:
Kalt fühlte sich mit einem Male die Tasse in Bens Jacke an

ein anflug von schuldgefühlen, in dieser ja doch nicht so schlechten welt ein verbrechen begangen zu haben? aber:
Er [der penner] saß unverändert wie es schien am selben Platz

und hier wird ihm [ben] klar, dass die welt, in der penner immernoch wie aussätzige behandelt werden, im grunde die gleiche ist wie vor dem schneefall.

eine erkenntnis, die sich ja auch nach dem wechsel des geschäftes (gleiche etage) abzeichnet, auch da gibt es die käfer und allerhand anderen plunder.

ich unterstelle dem text mal, er handle von einem menschen der nicht anders kann als nicht oberflächlich zu sein - bis auf einige kurze momente.
Als er ging versuchte er zu lächeln

und alles bleibt wie es war. er spielt nach seinem kurzen ausbruch wieder mit, und zerstört erstmal keine weihnachtsstimmung mehr. nein er übt sogar noch (seiner mutter zuliebe?) sie zu erhalten.

ja. oh ja! fein fein fein.
freundschaftlich
der fred

ps: sollte benn [edit: ich meine natürlich ben... ] (s.o.) irgendwie an mir orientiert sein (er hat jedenfalls ähnlichkeiten mit dem menschen für den ich mich halte) möchte ich anmerken, dass ich nicht lächeln üben muss. ich kann das auch so. :]
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Re: Schneematsch (für Le Freddy)

Beitragvon Garfield » Do 07 Jan, 2010 18:17


Moin Freddy

Danke für deinen Kommentar, da kriege ich gleich ein schlechtes Gewissen, dass ich mein Geschenk noch nicht kommentiert habe...
Es freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat und mindestens genauso, dass du viel von meiner Intension erkannt hast. Ich beharre zwar nicht auf einer bestimmten Interpretation bei meinen Geschichten, aber man freut sich ja doch wenn ein Großteil dessen ankommt, was geplant ist.

Ben ist allerdings nicht an dir orientiert, sorry :D
Dafür kenne ich dich ja zu wenig, ich hatte aber kurz überlegt, von dir inspriert, eine Geschichte mit einem Möchtegernfranzosen zu schreiben, aber das war nix...

Gruß Garf
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Re: Schneematsch (für Le Freddy)

Beitragvon Garfield » Do 07 Jan, 2010 22:09


Moin Mo

Danke für den konstruktiven Kommentar...
Konturlos? Ja kann sein, ich frage mich aber wie man in so einem kurzen Text eine ganze Charakterisitk unterbringen soll, insbesondere dann, wenn das nicht direkt Thema des Textes ist. Möglich ist das vllt, aber ich bin ja noch am Üben und versuche mich zu verbessern, was schwierig ist, da ich nur selten zum schreiben komme.

Würde mich freuen, wenn du deine Kritik ausführlicher beschreiben würdest, ansonsten kannst dus stecken lassen.

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Re: Schneematsch (für Le Freddy)

Beitragvon Garfield » Do 07 Jan, 2010 23:05


Moin Mo

Okay, das hatte ich so nicht verstanden, da du Ben mit den Worten: gewöhnlich, allgemein und konturlos, beschrieben hast, lag die Vermutung nahe, dass dir Charakteristik fehlt.

ich finds schade das der über-erzähler im prinzip die gleichen gedanken wie ben hegt - um bens meinung über weihnachten darzustellen nimmt er selbige an, das macht ihn wertend und den text sehr gewollt.


Die Beschreibungen und Äußerungen sind ja quasi die Eindrücke und Gedanken von Ben. Sonst müsste ich Ben dachte dies, Ben dachte das schreiben, was mir auch nicht gefallen würde.
Wenn es z.B. Klebrig süße Musik heißt, dann ist das natürlich nur Bens Meinung. Doch wenn ich, um das Werten zu verhindern, nur Weihnachtsmusik schreiben würde, könnte ich nicht rüberbringen, dass ihn eben diese stört. Das Übertragen der Gedanken durch die Beschreibung der Umwelt erschien mir passenender und auch interessanter.

Der Text ist ja auch durchaus gewollt, ich habe beim Schreiben verschiedene Intensionen verfolgt.
Aber es ist natürlich unschön wenn das auch gewollt rüberkommt.

Gruß Garf
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