Fantasy ab 16 von Yve

Kapitel 5

Beitragvon Yve » Mo 20 Sep, 2010 12:45


Kapitel 5

William war zu ihr gekommen, hatte sich neben sie gesetzt und streichelte ihr zaghaft über den Rücken. „Es tut mir leid.“, bedauerte er. Aurelia setzte sich langsam auf und sah ihn mit verweinten Augen an, während sie versuchte die Tränen wegzuwischen. „Es ist doch nicht deine Schuld. Ich weiß einfach nicht warum ich hier festgehalten werde und warum er so furchtbar zu mir ist. Ich habe doch niemand etwas getan!“. William lächelte zögerlich, reichte ihr sein Taschentuch und rief: „Natürlich hast du das nicht.“. Aurelia griff nach dem Tuch, wischte sich über ihr Gesicht und legte sich wieder hin, während sie William ansah. „Ich verstehe einfach nichts hier.“, flüsterte sie entgeistert. Er legte sich neben sie, nahm ihre Hand und versuchte sie zu beruhigen: „Alles wird wieder gut.“. Aurelia schnaubte leise. Zu gerne hätte sie ihm geglaubt, aber sie wusste es besser. Das emotionale Chaos in ihrem Inneren zehrte an ihren Kräften und schon wenige Minuten später fiel sie in einen tiefen Schlaf, während sie sich noch immer an Williams Hand klammerte.

Edward verneigte sich tief und wartete gespannt. „Bruder!“, rief Seraia aufgeregt. „Orinos hat mir soeben eine Nachricht zugesandt. Er wird meinem Bündnis zustimmen. Wir haben es geschafft.“. Edward setzte sich auf einen der Stühle und lächelte, während er seine Schwester beglückwünschte. Etwas besorgter fuhr Seraia fort: „Allerdings stellte er eine Bedingung.“. Edward zog die Augenbraue nach oben und fragte interessiert: „Welche?“. Seraia strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, setzte sich und erklärte: „Orinos wird das Bündnis unterzeichnen und fordert dafür allerdings die Herausgabe der Frau.“. „Woher weiß er von ihr?“, fragte Edward überrascht. Seraia schnaubte verächtlich: „Wahrscheinlich von Naltar dem alten Greis. Allerdings kann mir niemand nachweisen, dass ich die Frau in meinem Besitz habe.“. Die Geschwister schwiegen, während Seraias Gedanken Kreise zogen. Ein hämisches Grinsen huschte über ihre Lippen und Edward wusste sofort, dass sie eine Möglichkeit gefunden hatte, Orinos zu täuschen. Sie erhob ihren schmalen Zeigefinger und deutete Edward an, näher zu kommen. Als sich ihre Gesichter so nah beieinander befanden, dass sich ihre Nasenspitzen berührten, flüsterte sie eindringlich: „Sie hat ihren Zweck erfüllt.“. Edward sog scharf die Luft ein und hielt den Atem an. „Töte sie!“.

Aurelia wurde grob aus ihrem Schlaf gerissen, als sie laute Stimmen und das Geklapper von schweren Rüstungen vernahm. Sie öffnete sie Augen und ihr Blick fiel auf William, der noch immer neben ihr lag und ebenfalls gerade erwachte. Plötzlich stürmten vier bewaffnete Soldaten in Aurelias Zimmer und richteten ihre Schwerter gegen William und sie. Zwischen den Männern tauchte Prinz Edward auf und seine Miene ließ nichts Gutes erhoffen. „Lord William Elidar, Ihr seid hiermit ab sofort all Eurer Ämter enthoben und werdet in ein Verließ gebracht, aufgrund des Verdachts auf Hochverrates gegen das Königreich Karadin.“, verkündete einer der Soldaten. „Was? Das ist absoluter Irrsinn!“, rief William schockiert. Zwei der Männer rissen ihn aus dem Bett, legten ihm Ketten um Hände und Füße und nahmen ihn mit sich. „Nein! Was macht ihr da? Er hat nichts getan!“, schrie Aurelia. Edward kam auf sie zu und gab ihr eine so kräftige Ohrfeige, dass sie rücklinks nach hinten auf ihr Bett kippte. Er nahm zwei Stricke, knebelte sie an Händen und Füßen, verschnürte ihren Mund mit einem Tuch und stülpte ihr einen Sack über den Kopf. Aurelia konnte sich kaum wehren, da sie noch imemr von dem kräfigen Schlag benommen war. Als sie langsam wieder zu sich kam, war sie so zugeschnürt, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Pure Angst stieg in ihr auf und sie versuchte sich von den Fesseln zu lösen, jedoch erfolglos. Sie strampelte und wollte nach dem Prinz treten, doch dieser nahm sie einfach hoch und warf ihren Körper über seine Schultern, während er sich in Bewegung setzte. Ihre Schrei wurden von dem Knebel und dem Sack über ihrem Gesicht völlig erstickt und panisch rang sie nach Luft. Edward stieß ihr hart in die Rippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Was würde er nun mit ihr tun? Dumpf vernahm sie seine Stimme, wie er etwas seinen Männern befahl und darauf hin entfernten sich die klappernden Geräusche der Rüstungen. Wage nahm sie wahr, dass sie sich kurze Zeit später im Freien befanden und mit der magischen Plattform nach unten fuhren. Sie vernahm die Geräusche der Pferde in den Ställen und grob wurde sie auf ein solches Tier geworfen, dass sich wenige Sekunden später in Bewegung setzte. Mittlerweile hatte sie es aufgegeben sich zu wehren, denn es war aussichtslos. Aber irgendwann würde sich eine Gelegenheit ergeben und diese würde Aurelia ohne zu Zögern nutzen, um zu Naltar zurückzukehren. Das Pferd ging erst langsam und wurde immer schneller, bis es gallopierte. Irgendein Teil des Sattels stieß ständig in ihren Magen und ihr wurde so übel, dass sie kurz davor war, sich zu übergeben. Der Ritt dauerte eine gefühlte Ewigkeit und Aurelia musste sich in all der Zeit beherrschen nicht wieder zu weinen. In ihr brodelten Gefühle von Angst, Hass, Hilflosigkeit und Ungewissheit über das, was ihr bevorstand. Sicherlich würde der Prinz ihr etwas Schreckliches antun. Davon war sie überzeugt. In all ihrer Not sorgte sie sich ebenso um William. Er hatte nichts verbrochen und war genauso unschuldig wie sie selbst. Was würden sie nun mit ihm machen? Er war ein wunderbarer und lieber Mensch und hatte es nicht verdient in irgendeinem Kerker zu vermodern oder Schlimmeres zu erleiden! Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während sie nichts weiter vernahm, als den Atem des gallopierenden Pferdes, das Sattelteil, dass ihr in den Magen schlug und die kühle Luft, die sie umgab. Sie konnte nicht sagen wann, aber nach einer Weile wurde das Pferd gestoppt, Edward riss sie vom Sattel herunter und ließ sie auf den feuchten Boden fallen. Schließlich nahm er ihr den Sack vom Kopf und starrte sie an. Blanke Angst stand in ihrem Gesicht geschrieben. Aurelia versuchte sich aufzusetzen und blickte ihn entsetzt an, während sie sich an einen Baumstamm lehnte um nicht seitwärts zu kippen. Edward stand da, erwiderte ihren Blick und begann wie ein wildes Tier auf und ab zu gehen. Er fluchte wütend in sich hinein und atmete so laut wie ein tobender Stier. Den einzigen zusammenhängenden Satz, den Aurelia verstehen konnte war: „Was mache ich hier nur?!“. Plötzlich wendete er sich an sie und rief wütend: „Warte hier.“. Wie witzig! Wo sollte sie auch sonst hin? Sie hatte keine Ahnung wo sie war, geschweigedenn konnte sie sich bewegen. Sie befand sich in irgendeinem Waldstück, das war alles was sie wusste. Edward ließ sie einfach sitzen und ging. Wenige Minuten später kam er zurück und trug ein Bündel Baumäste unter dem Arm, die er neben ihr aufschichtete. Aurelias Augen begannen sich erschrocken zu weiten. Er wollte sie doch nicht etwa verbrennen?! Er setzte sich ihr gegenüber auf den Erdboden und starrte in ihre angsterfüllten Augen. Anschließend öffnete er seine Hand und plötzlich bildeten sich kleine, züngelnde Flammen auf seiner Handfläche, die zu einer Kugel verschmolzen, diese er mit einer Handbewegung auf die Holzscheite schoss. Die Äste fingen sofort Feuer und loderten hell auf. Das wärmende Feuer ließ einen wohltuenden Schauer über Aurelias Rücken laufen. Edward saß ihr schweigend gegenüber und Aurelia fragte sich, was er nun mit ihr vorhatte und wie er das mit dem Feuerball bewerkstelligen konnte. Nachdem es dunkel geworden war, brach er endlich sein Schweigen: „Weißt du, warum du hier bist?“. Aurelia schüttelte ängstlich den Kopf. „Ich habe den Befehl erhalten, dich zu töten.“. Sie versuchte zu schreien und ihn davon abzuhalten, aber unbeeindruckt fuhr er fort: „Ich werde dich nicht töten, weil ich mich an mein Versprechen gebunden fühle, dich nach Hause zu bringen. Ich habe es nicht vergessen. Aber mit dieser Entscheidung stelle ich mich gegen meine Schwester, meine Königin und mein Land! Weißt du was das für mich bedeutet?!“. Aurelia sah ihn durchdringend an. „Seraia wird mich jagen wie ein Tier und mich für meinen Hochverrat hinrichten lassen. Du hast ein Leben in das ich dich zurück bringen werde. Meines hört in diesem Moment auf zu existieren..“, flüsterte er bedrückt und gleichzeitig zornig. Langsam beugte er sich in ihre Richtung und löste den Knebel in ihrem Mund. Erleichtert atmete Aurelia auf und fragte eindringlich: „Wieso tust du das?“. Edward lachte höhnisch auf und wusste selbst nicht, was er ihr antworten sollte. „Lass mich gehen und niemand wird merken, dass du mich nicht getötet hast. Dann kannst du dein Leben behalten.“, schlug sie vor. „Nein, sie wird es wissen.“, versuchte er ihr klar zu machen. Erneut wollte Aurelia wissen: „Warum tust du das?“. Sein Körper sackte in sich zusammen und er fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare, während er leise antwortete: „Weil du unschuldig bist. Ich habe in meinem Leben viel zu viele Unschuldige auf meinem Gewissen oder was glaubst du, warum ich „Blutprinz“ genannt werde?“. Aurelia konnte ihm nicht ganz folgen. Zwar hatte sie diesen Beinamen, der wohl seine Taten bezeichnete, schon einmal gehört, aber dennoch wusste sie nicht, warum er plötzlich einen solchen Sinneswandel durchmachte. „Es ist mein Verschulden, dass du hier bist und wenn es jemals einen Moment in meinem Leben gab, in dem ich Buße hätte leisten können, dann ist dieser nun gekommen.“. Aurelia begriff, dass Edward es wohl als eine Art Wiedergutmachung seiner vergangenen Taten betrachtete, die wohl seine Seele rein waschen sollte. Dennoch musste sie fragen: „Und was ist mit William? Was wird mit ihm geschehen?“. Edward sah sie ungläubig an und lächelte fast schon erschüttert: „Keine Angst, ihm wird nichts geschehen. Ich brauchte nur einen glaubhaften Akt, der mir die Flucht mit dir ermöglichte. In diesem Moment wird meiner Schwester klar werden, dass ich sie hintergangen habe und sie wird William frei lassen und ihn damit beauftragen uns zu finden.“. Aurelias Augen weiteten sich. William würde ihr nie etwas zu leide tun, selbst wenn er sie finden würde. Zumindest hoffte sie es. Während der Prinz sich erhob, zu seinem Pferd ging und Wolldrecken aus den Satteltaschen zog, beobachtete sie ihn schweigend. Er war ein seltsamer Mensch und sie wusste nicht, ob sie ihm Glauben schenken konnte. Schließlich hatte er sie zuerst in diese Welt gebracht, dann entführt, anschließend menschenunwürdig behandelt und zu guterletzt wollte er sie umbringen. Doch von einer Sekunde auf die andere hatte er beschlossen sein Leben aufzugeben, um ihr das Ihre wiederzugeben. Aurelia konnte diesen Sinneswandel beim besten Willen nicht nachvollziehen. Der Blutprinz war grausam, gewissenlos und hartherzig zu Werke gegangen, allerdings hatte William dieses Verhalten etwas blumiger umschrieben, und niemals Gewissenskonflikte gezeigt. Warum also in diesem Moment? Glaubte er etwa, dass mit einer guten Tat alle anderen vergessen werden konnten? Edward breitete die Decken auf dem kühlen Erdboden aus, hob Aurelia hoch und setzte sie auf eine von diesen. Schließlich beugte er sich zu ihr herunter und löste die Fesseln an Händen und Füßen. Aurelia streckte sich, rieb sich über die Handgelenke und ihren Bauch, der noch immer von dem Ritt schmerzte. Als Edward ihr Zittern bemerkte, legte er ihr eine weitere Decke um die Schultern, die sie eng um ihren Körper wickelte. Aus einem kleinen Beutel zog er etwas Brot und Trockenfleisch und überreichte die Hälfte an Aurelia. Schweigend nahm sie das Essen entgegen und biss zögerlich hinein. Der Himmel war klar und die Sterne funkelten am Nachthimmel. Sie trug noch immer das grüne Seidenkleid des Vorabends, welches ihren Körper nicht besonders warm hielt. Sie rückte näher an das Feuer heran und zog die Wolldecke noch fester um ihren Körper, während sie Edward nicht aus den Augen ließ. Sein Blick wurde weicher und freundlich versuchte er Aurelia zu beruhigen: „Du brauchst keine Angst zu haben. Vertraue mir.“. Aurelia schnaubte höhnisch: „Du hast dir mein Vertrauen nicht verdient.“. „Das ist wahr.“, räumte er lächelnd ein. Seine blauen Augen starrten sie eindringlich an und Aurelia konnte seine Gedanken nicht erraten. An diesem Abend hatte er mehr als zwei Sätze von sich verlauten lassen, was er bisher nie getan hatte. Er war nicht nur schweigsam, sondern auch mysteriös und unheimlich. Jedoch wirkten seine Gesichtszüge im Moment weich und freundlich, was Aurelia etwas zuversichtlicher stimmte, dass er ihr vielleicht wirklich helfen wollte. Schließlich seufzte er schwer und sagte: „Leg dich schlafen. Im Morgengrauen brechen wir auf und unsere Reise wird lang und anstrengend.“. Aurelia nickte, legte sich auf die Decke und drehte ihr Gesicht in Richtung des Feuers, während sie sich zusammenrollte wie ein Igel. Sie behielt den Prinz argwöhnisch im Auge, bis sie schließlich einschlief.

Die ganze Nacht hindurch lag Edward wach. Aurelias Zähne klapperten leicht und sie zitterte, obwohl sie schlief. Nur zu gern hätte er sie in seine Arme geschlossen und ihr Wärme gegeben, doch er musste einen klaren Kopf behalten. Ihre bevorstehende Reise barg viele Gefahren für die er gewappnet sein musste. Nicht nur dass ganz Karadin und Teredor sie jagen würden, sondern viele Gebiete, die sie durchqueren mussten, bargen tückische Kreaturen, die nur zu schnell ihr beider Leben beenden konnten. Als die Sonne aufging, weckte er Aurelia. Sie rieb sich die Augen und streckte sich genüßlich, bis ihr klar wurde, wo sie sich befand. Augenblicklich trat erneut der Ausdruck von Angst in ihre Augen. Während Edward die Wolldecken wieder in den Satteltaschen des Pferdes verstaute, fragte sie: „Wohin gehen wir jetzt?“. Er half ihr auf das Pferd, stieg hinter ihr auf, legte seine Arme um sie und griff nach den Zügeln. „Zuerst reiten wir zu der Quelle des Gerikules.“. Aurelia nickte zwar, obwohl sie mit dieser Antwort nichts anfangen konnte. Edward stieß seine Hacken in die Flanken des Pferdes und dieses setzte sich augenblicklich in Bewegung. Aurelia drückte ihren Rücken an Edwards Brust, da sie noch immer fror und sein Körper eine wohltuende Wärme ausstrahlte. Seine Brustmuskeln verhärteten sich spührbar, wahrscheinlich weil es ihm unangenehm war. Aber Aurelia ließ dich davon nicht stören und fragte aufrichtig interessiert: „Was machen wir an dieser Quelle?“. Seine Stimme klang heißer, als er antwortete: „Du wirst schon sehen.“. Das waren die letzten Worte, die er während der gesamten Reise von sich gab. Sie bewegten sich nach Osten und blieben immer abseits der Wege. Der Himmel war mit dunklen Wolken behangen und ab und an fiel leichter Nieselregen. Sie durchquerten dunkle Wälder, passierten kleinere Hügelformationen und gelangten schließlich in einem Dorf an. Edward brachte das Pferd etwas außerhalb des Städtchens zum Stehen, stieg ab und bedeutete Aurelia dort zu warten. Während Edward nicht mehr zu sehen war, haderte Aurelia mit sich selbst. Dies war der perfekte Zeitpunkt, um zu flüchten. Wenn Karadin und Teredor Nachbarländer waren, würde es nicht lange dauern, bis sie bei Naltar war. Sie hatte ein Pferd, obwohl sie nicht reiten konnte, aber dies war im Moment ihr kleinstes Problem. Nahrung und warme Decken standen ihr ebenfalls zur Verfügung und sie hätte nichts weiter tun müssen, als den Gaul dazu zu bringen, sich in Bewegung zu setzen. Doch ihr Bauchgefühl hielt sie davon ab. Der Prinz schien so viel für ihre Rettung aufgegeben zu haben, dass es ihr als unfair erschien, ihn im Stich zu lassen. Auf der anderen Seite hatte sie keinerlei Grund, ihm zu glauben oder gar zu vertrauen. Während sie ihren Gedanken nachhing und überlegte, was sie nun tun sollte, entschied sie sich schließlich zu bleiben und auf ihn zu warten. Etwa eine halbe Stunde später kam er zurück und reichte ihr zwei Säcke. Der eine war prall gefüllt mit Kleidung und im zweiten befanden sich Proviant für die Reise. Wortlos stieg Edward auf und setzte das Pferd wieder in Bewegung, obwohl ihm nicht entgangen war, dass er Aurelia die Möglichkeit zur Flucht geboten, sie diese aber dennoch nicht wahrgenommen, hatte.

Gegen Nachmittag erreichten sie erneut ein kleines Waldstück in dessen Mitte ein See lag. Ein Wasserfall plätschterte über moosbewachsene Felsen und brachte das Wasser durch den Aufprall zum schäumen. Edward stieg von seinem Pferd, half Aurelia ebenfalls herunter und nahm die Satteltaschen ab. Schließlich flüsterte er etwas, für Aurelia Unverständliches, in das Ohr des Pferdes, gab ihm einen Klapps und das Tier gallopierte davon. Fragend sah sie Edward an und dieser erwähnte nur beiläufig: „Wir sind da.“. Er warf sich die Taschen über seine Schulter, trat dich an Aurelia heran und blickte auf sie herab. Seltsamerweise begann ihr Herz schneller zu schlagen, da sie nicht sagen konnte, was nun geschehen würde. Leise sagte er: „Vertrau mir.“, während sich seine blauen Augen in die ihren vertieften. Dann berührten seine Lippen zaghaft die ihren und während er sie küsste, bließ er seinen heißen Odem in ihren Mund. Schockiert über diesen Überfall trat Aurelia nach hinten und rief: „Was soll denn das werden?“. Edward lachte nur, nahm sanft ihre Hand und zog sie mit sich in das kalte Wasser des Sees. „In der Quelle des Gerikules befindet sich ein Durchgang den wir passieren müssen. Lass meine Hand nie los!“, ermahnte er sie eindringlich. Aurelia hatte absolut keine Ahnung, warum er sie für diese Information hatte küssen müssen, obwohl sie von seiner Zärtlichkeit definitiv überrascht war. Schulterzuckend folgte sie ihm, holte tief Luft und tauchte unter. Etwas an Edwards Gürtel leuchtete blau und spendete genug Licht, um unter Wasser ein Stück weit sehen zu können. Wenige Meter vor ihnen entdeckte sie eine kleine Öffnung in einer Felswand, durch diese Edward sie zog. Plötzlich stieg Panik in ihr auf. Der Tunnel war lang und dunkel und sie würde die Luft nicht so lange anhalten können, bis sie das andere Ende erreicht hatten. Ängstlich begann sie zu strampeln und wollte wieder zurückschwimmen, um an der Wasseroberfläche erneut Luft schnappen zu können. Doch Edward zog sie eisern mit sich in das dunkle Loch. Er drückte ihre Hand und nickte ermunternd ihr zu. Plötzlich merkte Aurelia, dass sie überhaupt nicht von dem Verlangen nach Luft quältewurde. Sie musste nicht atmen und brauchte keine Luft. Es fühlte sich eigenartig an, so als ob sie in einer Luftblase sitzen würde oder wie ein Taucher in einer Glocke. Wie konnte das möglich sein? Und wieso wunderte sie sich überhaupt noch über solche Vorkommnisse? Da gab es aus dem Nichts erschaffene Feuerbälle, fliegende Plattformen, verbrenndende Vögel und nun auch noch eine Art „Unterwasseratmung“. Langsam wurde sie wieder etwas ruhiger und staunend ließ sie sich von Edward führen. Um sie herum schwammen kleine Fischschwärme die im Licht glänzten und verschreckt die Richtung wechselten, sobald sie die Eindringlinge bemerkten Am Boden des Tunnels wuchsen farbenbrächtige Korallen und glitzernde Mineralsalzsteine hafteten an den Felsen um sie herum. Etwa eine halbe Stunde später erreichten sie das andere Ende des Durchgangs und tauchten langsam an der Oberfläche auf. Edward zog sie mit sich an das Ufer und half ihr aus dem Wasser. Aurelia fröstelte, während das nasse Kleid immer schwerer wurde und ihre Körperhaltung nach unten zog. „Komm.“, drängte er sie und zog sie mit sich. Er schleppte sie einen steilen Berg hinauf, auf dem ein Rundturm stand. Als sie oben angekommen waren, blickt Aurelia erschrocken auf die steil nach unten abfallenden Klippen. Unter ihnen lag ein weites Meer, das bishin zum Horizont reichte. Die Wellen prallten schäumend gegen die Felsen und das Wasser rauschte ohrenbetäubend laut. Möwen kreisten über ihnen und kreischten auf der Suche nach Futter. Der Wind war frisch und stark und in der Ferne schaukelten große Segelschiffe über das Wasser. Edward öffnete die knarrende Tür des Turms, der wohl in vergangenen Zeiten die Funktion eines Leuchtturms hatte, und schob Aurelia hinein. Die Luft roch nach Salzwasser und modrigem Holz. Erdward nahm eine Fackel von der Wand neben ihnen, ließ kleine Flammen auf seiner Handfläche entstehen und entzündete damit die Fackel. Das untere Zimmer des Turmes war spährlich eingerichtet. Ein Tisch und vier Stühle standen vor einer Wendeltreppe, die nach oben führte. Mitten im Raum befand sich eine kleine Feuerstelle um die ein paar alte Felle ausgebreitet waren. Der Leuchtturm schien schon längere Zeit verlassen zu sein, denn die Möbel waren mit Spinnweben behangen, die Fenster so schmutzig, dass man kaum hindurch sehen konnte und die alten Holzdielen am Boden waren gesplittert und knarrten bei jedem Schritt. Der Prinz reichte ihr ein Seil und bedeutete ihr damit, die nasse Kleidung irgendwo aufzuhängen, während er den Turm verließ. Wenige Minuten später kehrte er mit etwas Feuerholz zurück, schichtete alles auf der Feuerstelle auf und schon kurz darauf loderte ein warmes Feuer, dass den gesamten Raum in weiches Licht tauchte. Aurelia hatte zwischenzeitlich das Seil quer durch das Zimmer gespannt, dessen Enden an den eisernen Fackelhaltern befestigt und machte sich daran die nassen Kleider aufzuhängen. Edward hingegen durchforstete den gesamten Turm auf der Suche nach trockenen Decken und nachdem er fündig geworden war, sagte er forsch: „Du solltest dein nasses Kleid auch ausziehen.“. Aurelias Augen weiteten sich etwas, während sie die trockende Decke, die er ihr reichte, entgegen nahm. Mit einem Augenzwinkern wies er auf die Treppe, die nach oben führte. Aurelia hatte den Wink verstanden und ging nach oben, um sich ihres nassen Kleides zu entledigen. Schließlich wickelte sie die nicht besonders gut riechende und kratzige Decke um ihren Körper und befestigte alles mit einer silbernen Kordel des Seidenkleides. Als sie wieder nach unten kam, hatte der Prinz bereits frisches Fleisch in das Feuer gelegt und dieses begann herrlich zu riechen. Zuerst sah er sie mit verkniffenen Augen an, bedeutete ihr anschließend sich auf eines der Felle zu setzen und reichte ihr ein Stück durchgeweichtes Brot. Edward nahm ihr gegenüber Platz. Er trug noch immer sein nasses, weißes Hemd, die schwarze Hose und die Lederweste. Er entledigte sich nur seines dunklen Wappenrockes, auf der eine feurige Schlange abgebildet war, und hatte nur eine Wolldecke um seine Schultern geworfen. Aurelia beobachtete ihn intensiv, während er sich über sein Essen hermachte. Er wirkte zwar stark und unberechenbar, aber nicht mehr bedrohlich. Aurelia lag ein „Danke“ auf der Zunge, dieses sie jedoch nicht ausprach. Es war zu früh um ihm zu danken, denn bisher hatte er noch nicht wirklich viel für sie getan. Aurelia konnte nicht sagen, ob es langsam an der Zeit war, ihm etwas mehr Vertrauen entgegen zu bringen oder misstrauisch zu bleiben. Schließlich war es äußerst seltsam, dass er alles verriet, was ihm wichtig war, wofür er jahrelang gekämpft und sein Leben riskiert hatte. William hatte ihr erzählt, wieviele Schlachten der Prinz und er gemeinsam ausgetragen hatten, welch ein brillanter Taktiker und guter Schwertkämpfer er war, der sich nicht nur seiner Kraft, sondern auch seiner Magie effizient bediente. Aurelia konnte sich kaum vorstellen, dass der Prinz dies alles tat, nur um eventuell sein Gewissen reinwaschen zu wollen. Dieser Gedanke schien ihr absurd. Insbesondere dieser schnelle Sinneswandel. Irgendetwas hatte er sicher vor. Vielleicht würde er sie sogar für irgendeinen seiner bösartigen Pläne benutzen und sie so lange täuschen, bis der Moment der Wahrheit kommen würde und sie keine Möglichkeit mehr hatte zu fliehen. Aurelia durfte ihrem Gegenüber nicht vertrauen und bedauerte nicht mit dem Pferd geflohen zu sein, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Edward sich räusperte und und eine barsch formulierte Klarstellung der Dinge von sich gab: „Den Kuss, den ich dir gab, drückte keinerlei Gefühl aus, sondern diente nur dazu, dein Überleben zu sichern.“. Zufrieden mit seiner diplomatischen Erläuterung nickte er und wartete mit verstohlenem Blick ab, was Aurelia nun sagen würde. „Das dachte ich mir.“, entgegnete sie kurz angebunden. Nachdem sie gegessen hatten bedeutete ihr Edward schweigend, schlafen zu gehen. Aurelia legte sich auf das Fell in Blickrichtung zu dem Prinzen, zog sich die Decke bis unter das Kinn und schloss die Augen. Sie war erschöpft, konnte aber dennoch nicht schlafen. Vielleicht war es doch besser die Flucht zu ergreifen und zu versuchen auf eigene Faust wieder nach Hause, oder zumindest zu Naltar, zu gelangen. Erst wartete sie eine Weile und als der Atem des Prinzen ruhig und tief ging, blinzelte sie durch ihre Wimpern. Die Gluht des Feuers war fast erloschen und Edward schlief sichtlich fest. Leise stand Aurelia auf, griff nach ein paar Kleidungsstücken auf der Leine, die noch immer klamm und kühl waren, packte alles in einen Sack und versuchte sich um den Schlafenden herumzuschleichen. Sie tastete sich im Halbdunkel bis zu der Tür und versuchte möglichst geräuschlos den vorgeschobenen Eisenriegel zu öffnen. Immer wieder warf sie einen Blick über die Schulter, doch der Prinz schlief weiter. Ihr Herz pochte in Anbetracht ihrer Flucht. Wo sollte sie hingehen wenn sie ihm entkam? Sie musste irgendeinen Weg finden um zu Naltar zu gelangen. Vorsichtig öffnete sie die alte Holztür, die plötzlich laut knarrte. Erschrocken fuhr sie zusammen und hoffte, dass er nicht aufgewacht war. Ihre Hoffnung starb, als Edward mit einem Satz hinter ihr stand, sie grob am Arm packte, sich bedrohlich aufbaute und verärgert fragte: „Was machst du da?!“. Er kannte die Antwort und so hielt sie es nicht für nötig etwas zu entgegnen. „Das ist also der Dank dafür, dass ich alles geopfert habe, um dir zu helfen?!“, höhnte er verächtlich. „Ich dachte, du hättest begriffen, dass du ohne mich nicht nach Hause, sondern nur deinen Tod, finden wirst.“, schnaubte er. Aurelia machte nicht einmal den Versuch einer Erklärung, sondern starrte nur an ihm vorbei in den dunklen Raum. In diesem Moment fühlte sie sich wie ein Verräter, wenn auch völlig unbegründet. Seltsamerweise tat er ihr leid. Edward verriegelte die Tür, zog sie mit sich, band einen Strick um ihr rechtes Handgelenk und das andere Ende an sein linkes Handgelenk. „Leg dich wieder hin.“, herrschte er sie an, legte sich auf sein Fell und schloss erneut die Augen.

Aurelia schlief fest, als plötzlich eine Hand auf ihren Mud gepresst und sie in die Senkrechte gezogen wurde. Sie riss die Augen auf und trat im Wahn um sich. „Sei still!“, zischte der Prinz. Aurelia sah sich um und wusste nicht was geschehen war. Die Morgensonne brach durch ein verschmutztes Fenster und erhellte den Raum etwas, doch keine Gefahr war zu erkennen. Fragend blickte sie ihn an, während er sie los ließ und seinen Finger auf seinen Mund legte. Hastig löste er ihre Fessel am Handgelenk, riss die Kleider von der Leine, packte alles in die Satteltaschen und zog Aurelia mit sich in das obere Stockwerk. Leise fragte sie: „Was ist denn los?“. Stumm schleppte er sie mit sich, befahl ihr sich auf eine modrige Holzbank zu setzen und zu warten, während er sein mächtiges Schwert aus der Scheide an seinem Gürtel zog und wieder nach unten ging. Aurelia wurde es mulmig zumute, denn dieser Akt hatte nichts Gutes zu bedeuten. Die Holzdielen des oberen Stocks waren modrig, verzogen und instabil. Aurelia legte sich vorsichtig längs auf den Boden und lugte durch einen Spalt zwischen den Brettern hindurch und sah Edward, wie er sich hinter der Eingangstür positioniert hatte und wartete. Sie zuckte erschrocken zusammen, als die Tür mit einem heftigen und lauten Schlag aufgebrochen wurde und zur Seite aufschwang. Bewaffnete Soldaten in schwerer Rüstung stürmten in den Turm uns sahen sich um. Edward hielt den Atem an, ebenso wie Aurelia. Die Männer waren sicher gekommen um sie beide gefangen zu nehmen oder gar zu töten. Einer der Gegenspieler stand mit dem Rücken zu Edward und hatte ihn im Schatten, den die Tür warf, nicht bemerkt. Diesen Vorteil nutzte der Prinz und stieß sein Schwert kraftvoll in dessen Rücken. Als Widersacher leblos zu Boden fiel und der Aufschlag einen ohrenbetäubenden Lärm verursachte, war das Überraschungsmoment für Edward verstrichen. Die restlichen vier Soldaten stürmten auf den Prinzen zu und versuchten ihn mit ihren Waffen zu treffen. Er wich jedoch geschickt aus, parrierte die Hiebe, während er mit seinem Schwert einen der Kämpfer schwer am Bein verwundete und einen anderen die Hand mit einem gekonnten Schwung seiner Klinge abschlug. Schmerzensschreie durchbrachen das Getöse des Kampfes. Einer der Verletzten verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten auf einen anderen Soldaten. Dieser verlor ebenfalls seinen festen Stand und beide gingen aufeinander fallenend zu Boden. Edward nutzte die Gunst der Stunde und stieß seine Schwertspitze durch beide Körper gleichzeitig hindurch, während er weiterhin zwei anderen ausweichen musste. Aurelia zitterte vor Angst, konnte aber nicht wegsehen. Ein Kämpfer rammte mit seinem Fuß Edwards Bein. Darauf hin geriet der Prinz ins Wanken und prallte mit voller Wucht längs auf die Holzdielen. Diesen günstigen Moment ließen sie die beiden Verbleibenden nicht nehmen und holten mit ihren Scherten weit aus, um einen tödlichen Stoß gegen ihn zu führen. Ohne zu Zögern stand Aurelia auf, wollte nach unten rennen, um Edward zu helfen, doch zeitgleich gaben mehrere Holzdielen nach, sie brach durch den Boden und fiel ins untere Stockwerk, direkt auf einen der Gegner. Während die Zwei einen Moment lang irritiert um sich blickten, stand Edward blitzschnell auf, zog Aurelia auf die Beine und stellte sich schützend vor sie. Sein Schwert lag noch am Boden, jedoch konnte er es nicht greifen, da seine Gegner ihn in Schach hielten. Edward und Aurelia wurden gegen eine Wand gedrängt, die Männer lächelten in Anbetracht ihres so offentlichlich scheinenden Sieges und holten aus um den Kampf endgültig zu beenden. Kurz bevor eine Schwertschneide auf Edwards Kopf nieder schlug, hob er die Hand und aus seiner Bewegung heraus bildete sich eine Art schwarzer magischer Schutzschild, der den Schwerthieb abprallen ließ. Während er die schützende Hülle um Aurelia und ihm aufrecht erhielt, bildeten sich kleine blaue Blitze in seiner anderen Hand, die sich zu zwei Kugeln formten. Die Geschosse schmetterte er auf die Körper der Widersacher, die nach deren Aufprall leblos zu Boden sackten. Sofort erlosch der magische Schild, Edward drehte sich zu Aurelia um, sah ihr besorgt in die Augen und fragte: „Geht es dir gut?“. So genau konnte Aurelia diese Frage nicht beantworten. Ihr Herz raste und sie atmete schnell und unregelmäßig. Adrenalin durchströhmte ihren Körper und sie verspührte keinerlei Schmerz. Zumindest in diesem Moment nicht. Benommen nickte sie und sank zu Boden, denn ihre Nerven langen blank. Edward hingegen packte eilig die letzten Überbleibsel zusammen, griff nach einem Schild der Soldaten, dass auf dem Boden lag, und schnallte sich dieses auf den Rücken. Sein blutgetränktes Schwert reinigte er grob an einem der Felle und steckte es wieder in die Scheide an seinem Gürtel. Anschließend holte er die Satteltaschen aus dem oberen Stockwerk und als er wieder unten angekommen war, zog er Aurelia auf die Beine und mit sich nach draußen. Aurelia selbst war noch immer in einer Art Schockzustand und konnte nicht begreifen, was gerade passiert war. Benommen folgte sie Edward den Berg hinab in einen dichten Wald. Unermüdlich zerrte er sie Meter für Meter mit sich, während er die Umgebung argwöhnisch im Auge behielt. Aurelia glaubte sich zu erinnern, dass er sie einen steilen und langen Weg nach unten in Richtung des Meeres führte, denn die Luft wurde immer salzhaltiger und feuchter.

Irgendwann führte Edward Aurelia in eine kleine Aushöhlung, die in den steilen Klippen lag. Er warf die Satteltaschen auf den Boden, setzte Aurelia daneben und blickte argwöhnisch aus dem hinaus. Als er sich sicher war, dass ihnen niemand gefolgt war, setzte er sich neben sie und fragte erneut besorgt: „Bist du verletzt?“. Aurelia schüttelte den Kopf, aber ihre Gedanken zogen wilde Kreise. Sie hatte noch nie gesehen, wie ein Mensch starb. All das Blut, die leblosen und teilweise verstümmelten Körper waren zu viel für sie gewesen. Sie konnte noch immer nicht begreifen, was passiert war. Natürlich wusste sie, dass Edward diese Menschen hatte töten müssen um, ihr beider Leben zu schützen, aber die Art und Weise war so furchtbar. Allerdings gab es keine schöne Art ein Leben zu nehmen. Edward hatte sich schützend vor sie gestellt, war besorgt um ihr Wohlergehen, aber der verwirrenste Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, war, dass sie ihm hatte helfen wollen. Sie hätte auch einfach in ihrem Versteck bleiben, Edward sterben lassen und fliehen können. Doch seltsamerweise tat sie das nicht, denn dieses Los hatte niemand verdient. Nicht einnmal er. Edward öffnete eine der Taschen, zog ein paar, mittlerweile getrocknete, Kleider heraus und reichte diese an Aurlia. „Zieh dich um; wir müssen weiter“, drängte er. Wortlos drehte er ihr den Rücken zu, sie entledigte sich ihrer Wolldecke, die sie am Vorabend umgewickelt hatte, und tat, was er ihr aufgetragen hatte. An einem der Kleidungsstücke, die er ihr gegeben hatte, haftete Blut. Schockiert untersuchte Aurelia ihren Körper, konnte jedoch keine Wunde entdecken. Das Blut stammte von Edward. Einer der Widersacher hatte ihn an seinem Oberarm verletzt. Aus der klaffenden Wunde ronn Blut und mittlerweile war sein Hemdenärmel schon gänzlich damit vollgesaugt. „Du bist verletzt.“, flüsterte sie. Edward blickte auf seinen Arm, zuckte gleichgültig mit den Schultern und wollte aufbrechen. „Warte.“, rief sie. Aurelia riss ein Stück Leinen von ihrem Oberhemd ab, stülpte seinen Ärmel nach oben und verband die Wunde. Überrascht von dieser freundlichen Geste nickte er lächelnd und gemeinsam folgten sie dem steil nach unten führenden Weg. Nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit schweigend nebeneinander hergegangen waren, sagte Edward: „Vielleicht solltest du anfangen mir zu vertrauen.“. Vielleicht sollte sie das wirklich tun. Immerhin hatte er sie mit seinem Leben geschützt, selbst wenn seine Beweggründe wahrscheinlich nicht die waren, die er ihr eingestanden hatte. Aurelia beschloss, ihm einfach nur zu folgen, das Beste zu hoffen und nicht mehr an die Vergangenheit zu denken. Langsam verebbte ihre innere Starre und scherzhaft entgegnete sie: „Wir werden sehen.“. Edward lachte auf, griff nach ihrer Hand und beschleunigte das Marschtempo.

Die schwere Flügeltür des Thronsaals wurde energisch aufgestoßen und zwei bewaffnete Wachmänner traten ein. Lord William Elidar wurde von ihnen in Ketten hereingeschleppt, der Königin vorgeführt und auf seine Knie gedrückt. Er senkte seinen Blick und wartete auf das Urteil Seraias. „Nun lieber Lord, wie sich herausstellte, war es alleine mein Bruder, der mich verriet. Ich sehe mich nicht weiter dazu veranlasst Euch derart unwürdig zu behandeln.“, kokettierte sie. „Löst die Fesseln!“, befahl sie ihren Männern, diese den erhaltenen Befehl unverzüglich ausführten. „Setzt Euch Lord Elidar.“, gebot ihm Seraia. An einen der Männer gerichtete fragte sie: „Habt Ihr ihn gefunden?“. Kleinlaut gestand dieser: „Ja, Majestät. Allerdings überwältigte er fünf meiner Ritter und konnte fliehen.“. Königin Seraia runzelte wütend die Stirn und ließ ihn fortfahren: „Er hatte die Frau bei sich.“. Ungehalten befahl sie den zwei Soldaten den Raum zu verlassen, während sie wutentbrannt auf und ab ging und über ihren nächsten Schritt nachdachte. „Wie konnte er mir das antun?“, schrie sie William an. William jedoch schwieg, um nicht ihren Zorn auf sich zu lenken. Mit plötzlich aufgelegter und zuckersüßer Miene setzte sie sich William gegenüber und schmeichelte ihm: „Mein lieber Lord, Ihr habt viele Schlachten für mich und meinen Bruder zum Sieg gewendet. Ihr wisst nur zu gut, welch ein kluger Kopf Edward ist. Niemand kennt seinen scharfen Verstand so gut wie Ihr. Deshalb werde ich Euch mit dieser Aufgabe betrauen. Ihr wärt Euch meines vollstens Vertrauens wieder sicher und meine Dankbarkeit würde äußerst großzügig ausfallen.“. William sog die Luft scharf ein. Er ahnte, welchen Auftrag die Königin ihm anvertrauen würde. „Bringt mir meinen Bruder! Lebendig! Ich werde mich seiner annehmen.“. Ihre Augen wurden schwarz und ein rachlüstiges Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie stand auf und als sie im Begriff war, den Saal zuverlassen, fügte sie beiläufig hinzu: „Ach ja, die Frau. Macht Euch keine Mühe ihretwegen. Tötet sie einfach.“. Damit verschwand Königin Seraia und William verweilte weiterhin auf einem der Stühle. Diese Aufgabe hatte er gefürchtet, aber ihm waren die Hände gebunden. Langsam erhob er sich und verließ ebenfalls den Raum.

„Beeil dich!“, nörgelte Edward. Aurelia war müde, das Adrenalin in ihrem Körper war zurück gegangen und nun verspührte sie bei jedem Schritt Schmerzen, die von ihrem Sturz herrührten. „Ich kann nicht mehr.“, jammerte sie erschöpft. „Wir sind bald da.“, entgegnete er wenig motivierend. Als sie nach einer weiteren Stunde das Ende des Weges erreicht hatten, ermahnte sie Edward zur Stille und Vorsicht. Links von ihnen erstreckte sich ein weiterläufiger Steinstrand und in der Ferne entdeckte Aurelia einen Hafen. Große Segelschiffe fuhren in einiger Entfernung vorbei und steuerten in dessen Richtung. Das Sonnenlicht wurde schwächer und Feuer in den Leuchttürmen, nahe des Hafens, wurden entzündet. Edward bemerkte Aurelias interessierten Blicke und bemerkte beiläufig: „Das ist der Handelshafen von Balandril. Er gehört zu Karadin und ist der Größte seiner Art.“. Zu ihrer rechten Seite befand sich ein schmaler Grat, der in den Berg hineinführte. Kurz darauf erreichten sie einen Höhleneingang, dessen unebener Weg erneut steil hinunter führte. Ansätze von Treppenstufen waren in den kalten Stein geschlagen worden und brennende Fackeln wiesen die Richtung. Edward begann langsamer und leiser zu gehen, während er mit seiner Hand den Griff seines Schwertes fest umschloss und wohl auf alles gefasst war. Der Tunnel war eng und feucht und alle paar Meter gabelte er sich. Das Tunnelsystem war so weit verzweit, dass Aurelia schon nach der vierten Weggabelung die Orientierung verloren hatte. Edward schien den Weg allerdings zu kennen, worüber sie erleichtert war. Je länger sie den verschiedenen Pfaden folgten und je öfter sie abbogen, desto unwegsamer wurden diese. Tiefer in diesem Tunnelsystem gab es weder Treppen noch Fackeln, sondern nur noch raue Felsen und Dunkelheit. Edward hatte die letzte Fackel, die sie gesehen hatten, aus der Halterung genommen, die er jedoch etwas bedeckter hielt, um keine Aufmerksamkeit zu erwecken. Er führte sie über einen schmalen Grat, der an einem tiefen Abgrund lag. Aurelias Höhenangst machte ihr schwer zu schaffen und ängstlich klammerte sie sich an Edwards Arm. Ein falscher Schritt und sie würde in die Tiefe stürzen. Der Boden unter ihren Füßen wurde weicher und sie vernahm rauschendes Wasser. Als sie um eine Felsformation herumgehangelt waren, die ihnen den Weg versperrte, tauchte wie aus dem Nichts ein gigantischer Wasserfall vor ihnen auf, dessen Wasser in die Tiefe neben ihnen schoss. Edward blieb stehen und sah Aurelia an. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, weil sie ahnte, was er nun vorhatte. Edward lächelte und versuchte die Geräusche des Wasserfalls zu übertönen: „Du musst keine Angst haben. Vertrau mir.“. Immer wieder bat er sie, ihm zu vertrauen und langsam blieb Aurelia keine andere Wahl mehr. Er wies mit seiner Hand nach unten und rief: „Das ist unser Weg.“. Aurelia schüttelte ungläubig den Kopf und klammerte sich an ihn. „Da runter?“, fragte sie schockiert, nur um ganz sicher zu gehen, dass sie ihn richtig verstanden hatte. Er nickte, lachte und gab ihr einen kräfigen Stoß. Aurelia kreischte laut und stürzte in die Tiefe zusammen mit dem an ihr vorbei rauschenden Wasser. Wenige Sekunden später landete sie in einem See, schwamm nach oben an die Oberfläche und rang nach Luft. Ihr Herz pochte wie wild vor Schreck und nachdem Edward neben ihr auftauchte, gab sie ihm eine kräftige Ohrfeige aus Wut. Von oben hatte sie den See, indem sie gelandet war, nicht erkennten können und hatte somit an ihrem eigenen Ableben keine Zweifel mehr gehabt, nachdem Edward sie hinuntergestoßen hatte. Der Prinz hingegen konnte sich ein lautes Lachen nicht verkneifen und rief: „Dachtest du ich würde dich in den Tod stürzen?“. Ja, genau das hatte sie gedacht. Er nahm ihre Hand und zog sie mit ans Ufer. Das Wasser des hellblauen Sees spiegelte sich schimmernd an den Felsen und die Salzkristalle darin glitzerten. „Komm.“, rief er amüsiert über ihren Gesichtsausdruck. Aurelia stöhnte. Sie hatte ihren Schock immer noch nicht überwunden, war müde, ihre Glieder schmerzten und trotzdem musste sie weiter gehen. Erneut führte er sie durch einen Gang, bis sie in einen kleinen Raum gelangten. Edward legte die Satteltaschen beiseite und setzte sich. Aurelia tat es ihm gleich, während sie sich das Wasser aus dem Gesicht wischte und versuchte ihre Kleidung auszuringen. „Hier unten sind wir sicher.“, erklärte Edward. „Und wo genau sind wir?“, fragte Aurelia. „Das sind die Höhlen des Eradus. Die unterirdischen Gänge sind weit verzweigt und führen durch mehr als drei Länder im Umkreis. Diese Wege sind den Wenigsten bekannt und schon so mancher Abenteurer fand nie wieder heraus.“. In Anbetracht dieser Aussage konnte sie sich ein zynisches: „Und du schon?“, nicht verkneifen. Edward lachte erneut und sagte nur: „Ich hoffe es.“. Das war eine Antwort, mit der sich Aurelia nicht anfreunden konnte. Sie sah sich kurz um, konnte aber nichts außer Felsen und Wasser entdecken. Ein wärmendes Lagerfeuer und trockene Kleidung waren an diesem Tag wohl nicht im Bereich des Möglichen. Edward reichte ihr ein Stück aufgeweichtes Brot, dass eher an einen Schlammkuchen erinnerte und angeekelt versuchte sie das feuchte Mahl hinunterzuwürgen. Nach diesem kurzen Imbiss lehnte sie sich an einen Felsen, zog Beine und Arme nahe an ihren Körper und versuchte zu schlafen. Doch mit jeder Minute fror sie mehr und sie begann zu zittern. Plötzlich ruschte Edward näher an sie heran, legte seine Arme um sie und versuchte sie zu wärmen. Erschöpft und gleichzeitig dankbar, schmiegte sie sich an seinen warmen Körper und legte ihren Kopf an seine Brust. Sein Herzschlag ging ruhig und gleichmäßig, ebenso wie sein Atem. In diesem Moment fühlte sie sich wieder so geborgen und beschützt bei ihm, wie an jenem Abend, an dem er ihr dieses unheilvolle Versprechen gegeben und damit sein Leben zerstört hatte. „Erzähl mir etwas, damit ich einschlafen kann.“, flüsterte sie. Edward überlegte kurz, was sie von ihm hören wollte. Schließlich entschloss er sich, einige Fragen zu beantworten, diese sie sicherlich schon lange quälten: „Ich erhielt von Seraia den Auftrag dich zu entführen, weil sie dich als Köder für Orinos brauchte.“. Aurelia war zu erschöpft um ihn anzusehen und fragte nur: „Wer ist das?“. „Orinos ist der Herrscher über Teredor. Seraia wollte ein Bündnis mit ihm erzwingen. Als ihr bewusst wurde, dass Naltar von Argumera seine Finger im Spiel hatte und dich für eine wichtige Schachfigur in diesem Spiel hielt, wies sie mich an, dich zu holen. Seraia wusste, dass Orinos auf Naltars Drängen hin das Bündnis eingehen würde. Nur so hatte der alte Greis Naltar die Möglichkeit dich von Seraia zu fordern, da du sein Eigentum bist.“. Aurelia verstand. Sie war also nur als Köder benutzt worden, um Naltar in eine Falle zu locken. Trotz ihrer Erschöpfung rief sie wütend: „Und was hat sie mit Naltar vor?“. Edward zog Aurelia noch dichter an sich heran und fuhr fort: „Nichts. Wie alle anderen auch, ist er eine Schachfigur in Seraias Spiel. Naltar war nur die treibende Kraft des Bündnisses. Nachdem Karadin und Teredor unterzeichnet hatten, brauchte Seraia dich nicht mehr und befahl mir, dich zu töten. Damit wollte sie bezwecken, dass Orinos aus Wut das Bündnis brechen würde. Somit könnte Seraia diesen Bruch als Kriegserklärung ansehen und einfach in Teredor einmarschieren, ohne dass die anderen Verbündeten Teredors etwas dagegen unternehmen könnten. Karadin ist Teredor übermächtig, aber dennoch nicht in der Lage gegen vier Länder in den Krieg zu ziehen und sich gleichzeitig auch noch zu verteidigen.“. Aurelia ließ sich die Erklärungen durch den Kopf gehen. Es war nicht mehr und nicht weniger als ein politischer Machtkampf. Die Königin von Karadin schien eine brillante Taktikerin zu sein, die leider auch äußerst rücksichtslos und grausam war. Naltar hatte seinen König also dazu überredet das Bündnis einzugehen, um sie zu retten und aus der Gefangenschaft Seraias zu befreien. Wehmütig dachte sie an den alten und freundlichen Mann. Er hatte, nur um ihr zu helfen, das Wohl und die Zukunft eines ganzen Landes auf das Spiel gesetzt. „Was passiert jetzt?“, fragte sie mit belegter Stimme. „Ich weiß nicht. Seraia hat den Großteil ihrer Armee bereits hinter Areshil in Stellung gebracht und wartet nur darauf, dass Orinos einen Fehler begeht.“, antwortete er und es klang ehrlich für Aurelia. „Was will sie denn in Areshil?“, bohrte Aurelia weiter. Edward seufzte schwer und fragte: „Weißt du etwas über Whalian?“. Aurelia nickte nur und er fuhr fort. „Seraias Herkunft liegt in seiner direkten Blutlinie. Sie sieht es als ihre Aufgabe an, sein Werk zu vollenden.“. Das schwere Ausmaß dieser Worte wurde Aurelia nicht sofort bewusst, erst als Edward ihr auf die Sprünge half: „In Areshil liegt die Bibliothek der Weisen. All das Wissen unserer Welt befindet sich dort.“ Aurelia wurde plötzlich klar, dass Seraia in Areshil einfallen wollte um das Wissen zu stehlen, es für sich selbst zu nutzen, den Völkermord ihres Ahnen weiterzuführen und alleinige Herrscherin über alles zu werden. Trotz dieser furchtbaren Erkenntnis und den schrecklichen Bildern, die sich vor ihrem inneren Auge abzeichneten, gewann ihre Erschöpfung die Überhand. Bei dem Klang seiner Stimme fiel Aurelia in einen tiefen Schlaf.

Als Edward erwachte, stellte er überrascht fest, dass sich Aurelia während des Schlafens noch dichter an ihn geschmiegt hatte. Ihre goldgelockten Haare lagen wild auf seiner Brust verstreut und sie hatte ihre kleinen Füße unter einen seiner Oberschenkel geschoben, während ihre Arme seinen Oberkörper umklammerten. Aurelias Gesichtsausdruck wirkte zufrieden, allerdings fühlte sich ihre Haut bedenklich kühl an. Edward wagte es kaum sich zu bewegen, aber sein Rücken schmerzte und es wurde langsam Zeit aufzubrechen. Vorsichtig versuchte er sich aus ihrer Umarmung zu lösen und aufzustehen, während er ihren Kopf auf eine der Satteltaschen bettete und sich anschließend ausgiebig streckte. Die letzten Tage waren äußerst kräfteraubend gewesen. Nicht nur, dass er des Nachts nicht schlafen konnte, weil er immer das Bedürfnis hatte, über Aurelia wachen zu müssen, sondern seine inneren Widersprüche machten ihm schwer zu schaffen. Er war sich immer noch nicht sicher, ob er wirklich das Richtige tat. Wenn er nun umkehren und in Demut vor seiner Schwester um Gnade betteln würde, würde sie ihm zweifelsohne ihre Vergebung schenken. Allerdings war er kein Speichellecker, sondern ein Mann, der zu seinen Versprechen stand. Zumindest, was diese Frau anging. Seit er denken konnte führte er jeden Befehl seiner Königin aus. Er hatte Dörfer überfallen und geplündert, um die Schatzkammern zu füllen, ganze, und vor allen Dingen unschuldige, Familien ausgerottet, nur um Angst und Schrecken unter dem Volk zu verbreiten, damit niemand es auch nur wagte gegen die Königin aufzubegehren. Er war mit seiner Armee in fremde Länder gezogen um Völker zu unterwerfen, deren Schätze zu stehlen, Tempel zu schänden und alles Wissen zusammenzutragen, nachdem es seiner Schwester dürstete. Mehr als das halbe Leben hatte er nach den Schlüsseln der Sternensäule gesucht und jeden kaltblütig abgeschlachtet, der gewagt hatte, sich in seinen Weg zu stellen. Seine Schwertschneide hatte gewütet wie die des Prinzen Whalians zu seinen schlimmsten Zeiten und das Blut so vieler Menschen klebte an seinen eigenen Händen. Zurecht trug er den Namen „Blutprinz“, denn genau dies war er. Edward konnte nicht sagen warum er in der letzten Zeit das starke Bedürfnis hegte einmal in seinem Leben das Richtige zu tun und das Verlangen nach Buße in ihm immer stärker wurde. Immer öfter stellte er sich die Frage, wohin die Wege seiner Schwester wohl führen würde. Erneut in einen immerwährenden Krieg, zumindest lag diese Vermutung nahe. Seit er geboren worden war, war sein einziger Lebensinhalt der Kampf. Zu nichts anderem war er in diese Welt gesetzt und ausgebildet worden. Aber war das alles was ihn erwartete? Blutige Schlachten und ehrenlose Siege für einen fragwürdigen Zweck? Edward schüttelte entgeistert den Kopf. Es lohnte nicht, sich über diese Dinge Gedanken zu machen, denn er würde Aurelia durch die Portale der Himmel schicken und irgendwann würden ihn die Armeen aus Karadin oder Teredor finden und ihn hinrichten. Er würde sich nicht einmal wehren, denn die Exekution war der Verdienst für seine Taten und es war sinnlos sein kläglich gescheitertes Leben zu verteidigen.

Aurelias Körper schmerzte und der wollene Stoff ihrer Kleidung kratzte auf der kalten Haut. Verschlafen blinzelte sie und streckte sich. Ein kleiner Stein hatte sich in eine ihrer Gesäßhälften gebohrt und zögerlich setzte sie sich auf, während sie die in Mitleidenschaft gezogene Stelle rieb. Edward war bereits wach, wie sie feststellte. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und schien in seine Gedanken vertieft zu sein, denn er bemerkte ihr Näherkommen nicht. Eigentlich hätte sie schlechte Laune haben müssen, da sie erbärmlich fror, sie äußerst schlecht geschlafen hatte und ihr Magen unaufhörlich knurrte, aber seltsamerweise durchströmte sie dennoch eine eigenartige Euphorie. „Wohin gehen wir heute?“, fragte sie heiter. Edward fuhr erschrocken zusammen und drehte sich um, während er etwas zögerlich antwortete: „Wir folgen einem dieser Gänge. An dessen Ausgang befindet sich die Grenze zur flammende Wüste.“. Aurelia konnte nicht sagen, ob der Name des Ortes eher abenteuerlich oder doch wahnsinnig furchteinflößend klang und so wollte sie wissen: „Gefährlich oder schön?“. Edward lachte, während er die Satteltaschen über seine Schultern warf, den Schild an seinem Rücken befestigte und rief: „Etwas von beidem.“. Mit dieser Antwort hatte sie nicht unbedingt gerechnet, aber an diesem Morgen wollte sie sich die gute Laune nicht verderben lassen. Leichtfüßig folgte sie Edward durch den Tunnel, der sich vor ihnen befand. Dessen Weg führte steil nach oben und der Aufstieg war beschwerlich. Aurelias Schuhwerk war für eine solche Wandertour nicht geeignet und ständig rutschte sie über das Geröll wieder ein Stück nach unten. Sie versuchte sich an den spitzen Felsen der seitlichen Wände festzuhalten, jedoch litten ihre Handflächen extrem und der Scharfkantigkeit dieser. Nach etwa einem halben Tagesmarsch war das Ende des Tunnels endlich in Sicht. Das helle Tageslicht wies ihnen die letzten Meter ihres Weges und Aurelia war heilfroh wieder an der Erdoberfläche zu sein. Nachdem sie aus der Öffnung geklettert waren, ließ sich Aurelia erschöpft zu Boden fallen und rieb ihre schmerzenden Hände. Die scharfen Felswände hatten ihre Handflächen teilweise aufgeschlitzt und aus manchen Schnitten tropfte ein klein wenig Blut. Auch Edward hatte einige Blessuren an seinen Armen und Händen davon getragen, beklagte sich jedoch nicht. Aurelias Blick fiel auf die Kampfverletzung seines Armes. Der leinerne Verband war mit Blut durchtränkt, dass bereits trocknete. Langsam stand sie auf, ging auf Edward zu und vorsichtig löste sie den Verband, um die Wunde in Augenschein nehmen zu können. Die Blutung hatte zwar gestoppt, allerdings klaffte die Haut weit auseinander und nach ihrer laienhaften Meinung hätte er genäht werden müssen. Erneut trennte sie ein Stück ihres Oberhemdes ab und versorgte die Wunde mit einem frischen Verband. Edward ließ sie gewähren ohne auch nur einmal vor Schmerz zu zucken. Dankend nickte er und erwähnte schroff: „Kümmere dich lieber um deine Hände. Mir geht es gut.“. Aurelia riss zwei weitere Stücke ihrer Kleidung ab, verband damit ihre Hände und während dessen verzog sie schmerzhaft ihr Gesicht. Edward begann zu lachen, in Anbetracht ihrer Wehleidigkeit, und empört warf sie ihm dafür einen eisigen Blick zu und stichelte: „Entschuldige, aber ich bin nicht ganz so kampferprobt wie du und überhaupt ist das die schlimmste Verletzung die ich, seit meinem Beinbruch in der sechsten Klasse, hatte.“. So scherzhaft ihre Aussage auch klang, so sehr traf sie Edward an einem wunden Punkt. Aurelia bemerkte, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten und sah ihn betreten an. Gerade als sie eine Art Entschuldigung vorbringen wollte, drehte er sich um und marschierte weiter. Während Aurelia mit schlechtem Gewissen hinter ihm her trottete, sah sie sich um. Sie befanden sich in einer Art Steppe, die geradewegs auf hohe Sanddünen führte. Rote Felsformationen ragten rechts und links neben ihnen in den Himmel. Ab und an stolperte sie über einen vertrockneten Busch, der zwischen der zerbröckelten Erde heraushing. Im Gehen zog Edward zwei Decken aus einer Satteltasche, übergoss beide mit Wasser aus seiner Feldflasche und reichte eine davon an Aurelia weiter. „Hülle dich darin ein und bedecke auch deinen Kopf.“. Die Befürchtung stieg in ihr auf, dass diese flammende Wüste wohl eher doch ein gefährlicher, als ein schöner, Ort, war.

Nachdem sie die erste Sanddüne erklommen hatten, erstreckte sich ein unendlich weit wirkendes Meer aus weißem Sand vor ihnen. Egal wohin Aurelia sah, sie entdeckte nichts außer Sand und Dünen. Der Wind fegte die Sandkörner wild durcheinander und schon nach kurzer Zeit setzte sich der Sand in ihren Atemwegen fest. Ein weiterer Stofffetzen ihrer Kleidung musste daran glauben und das abgerissene Stück band sie sich vor Nase und Mund. Die Sandkörner rieben schon jetzt in ihren Augen und ihre Zuversicht auf einen netten Tag erlosch. Plötzlich brannte sie Sonne unerträglich auf ihrem Körper und lediglich die nasse Decke bot etwas Schutz und Schatten vor der Hitze. Es herrschte absolute Stille. Keine Vögel kreisten über ihnen, kein Kleingetier schlängelte sich durch den Sand und nicht eine Wolke war am Himmel zu sehen. Die Luft war so heiß, trocken und staubig, dass es Aurelia schwer fiel zu atmen. Sie hatte das Gefühl in einem Hochofen spazieren zu gehen. „Komm.“, trieb Edward sie an. Beunruhigt folgte sie ihm gehorsam und hoffte, dass sie diese Wüste so schnell es ging wieder verlassen würden. Der Sand brannte so heiß, dass sie ihn durch die Schuhesohle hindurch spürte und jeder weitere Schritt fiel ihr zusehens schwerer. Allerdings war es sicherlich schlimmer, wenn sie zum Stillstand kommen würden. Etwa eine Stunde später hielt Edward an und begoss erneut die Decken, die schon längst von der Hitze getrocknet waren, erneut mit Wasser. Gerade als er im Begriff war, sich wieder in Bewegung zu setzen, brüllte er laut: „Achtung!“, warf sich über Aurelia und bedeckte sie beide blitzschnell mit dem heißen Wüstensand. Aurelia hielt die Augen geschlossen und spürte nur, wie das Gewicht von Edwards Körper auf dem ihren lag. Irgendetwas erschütterte für einen Moment die Erde und schon wenige Sekunden später erhob sich der Prinz und zog Aurelia ebenso wieder auf die Beine. Irritiert blinzelte sie ihn an und fragte: „Was war das denn?“. Schweigend zeigte Edward in eine Richtung. Sie verfolgte seinen Fingerzeig mit ihren Blicken und trat erschrocken näher an ihn heran. Eine Art Windböhe, die aus hellblauen und violett lodernden Flammen bestand, fegte in wenigen Metern Entferung zu ihnen über eine Düne und war so schnell verschwunden wie sie erschienen war. „Was ist das?“, wollte Aurelia wissen. „Komm, wir müssen weiter.“, entgegnete er, während er sich in Bewegung setzte und gleichzeitig erklärte: „In dieser Wüste ist es so heiß, dass selbst die Luft beginnt zu brennen. Die Moleküle des Sandes werden durch die Reibung so erhitzt, dass sie Feuer fangen und durch den Wind weiter entfacht werden. Durch die starken Windböhen werden die flammenden Stürme so schnell, dass man ihnen selten entgehen kann. Wir haben einfach nur Glück gehabt.“. Aurelia konnte sich nicht erklären, wie sich Luft von selbst entzünden konnte, aber nach alldem was sie bisher erlebt hatte, wunderte sie fast nichts mehr. In dieser Wüste galt es einfach nur den Wirbelstürmen auszuweichen und so schwer konnte das schließlich nicht sein.


Allerdings stellte sich heraus, dass dies doch kein besonders leichtes Unterfangen war. Geschätzte alle halbe Stunde, warf sich Edward plötzlich über sie und wühlte den Sand über ihnen auf. Er hatte ein außergewöhnliches Gespühr für diese Flammenstürme und Aurelia war wirklich erleichtert darüber. Dennoch brannte der Sand nicht nur über ihr, sondern auch unter ihr, während sie sich in diesem vergraben hatten. Ihre Augen Schmerzen und je öfter sie versuchte die Sandkörner herauszureiben, desto schlimmer wurde es. Das Tuch vor ihrem Gesicht schützte zwar die Nase und den Mund vor dem Eindringen des Sandes, aber sie konnte noch schwerer atmen als ohnehin schon. Als die Dämmerung langsam einsetzte, sie eine weitere Düne erklommen hatten, erstreckte sich plötzlich hinter dieser eine gigantische und rötlich schimmernde Felswand, die weit in den Himmel ragte. Nachdem sie näher an diese herangekommen waren, erkannte Aurelia viele Häuser, die in den Stein der Wand gemeiselt worden waren. So etwas hatte sie schon einmal in einem Bericht im Fernsehen gesehen. Unzählig viele Häuser waren in den Stein gehauen worden und es machte den Anschein einer großen Stadt. Edward ging zielstrebig darauf zu und staunend folgte sie ihm. „Wo sind wir?“, fragte sie. „Das ist Zarebwara. Die Stadt ist seit Jahrhunderten ausgestorben und fast niemand erinnert sich an ihre Existenz, aber sie wird uns Schutz für diese Nacht bieten.“, erklärte er. „Warum wohnt hier niemand mehr?“, bohrte Aurelia nach. „Im Weltenkrieg zu Whalian stahl der Prinz die Magie dieses Wüstenvolkes und sie waren den Flammen hilflos ausgeliefert. Der mächtigste Flammensturm, seit Anbeginn der Geschichte, wütete damals durch diese Stadt und rottete das schutzlos zurückgebliebene Volk der Slari aus.“. In seiner Stimme klang Mitgefühl und diese Eigentschaft hatte Aurelia bisher noch nie an ihm entdecken können. Sie gelangten schließlich an einer steinernen Treppe an, die etwa fünfzig Meter nach oben zu einem der untersten Häuser führte. Vorsichtig betrat Edward das Haus und vergewisserte sich, dass sich niemand außer ihnen dort befand, wobei Aurelia dieses Verhalten eher als lächerlich empfand. Wer sollte schon hier sein? Nachdem auch Aurelia das Steinhaus betreten hatte, schloss er die Tür hinter ihr und verriegelte diese. Erschöpft ließ sich Aurelia auf eine Bank aus Stein fallen, nahm das Tuch von ihrem Gesicht und zog ihre Schuhe aus. Die Fußsohlen brannten wie Feuer und waren durch den groben Sand aufgescheuert. Edward durchforstete die Räumlichkeiten und fand eine Wasserpumpe. Er betätigte diese mehrmals bis schließlich kühles Wasser heraussprudelte. Anschließend stellte er zwei Tonschalen, die er ebenfalls in dem Haus gefunden hatte, unter die Pumpe und füllte diese mit Wasser. Eine der Schalen reichte er Aurelia, die sie dankbar entgegen nahm. Edward selbst verließ anstandsgemäß den Raum, damit sich Aurelia waschen und umziehen konnte. Nachdem sie jedes Körperteil von dem Sand befreit hatte, schüttelte sie kräftig ihre Kleider aus und zog sie wieder an. Wenig später kam auch Edward zurück und setzte sich neben Aurelia auf die Bank. Erschöpft atmete er mehrmals tief ein und aus und sein Körper sackte etwas in sich zusammen. Aurelia konnte nicht wissen, welche eine Anstrengung es war, den flammenden Stürmen zu entkommen. Sie trottete einfach nur hinter ihm her und ließ sich von ihm in den Sand werfen. Er hingegen hatte in dieser Wüste schon viele seiner Männer sterben sehen. Aurelia griff in eine der Satteltaschen, zog einen halben Laib Brot heraus und teilte diesen brüderlich mit dem Prinzen. Ihr Magen knurrte unerträglich und schon fast schmerzhaft. Beherzt biss sie in ihren Teil und trank Wasser aus der Feldflasche. Nac
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