Geschichten zum Thema Alltag

Begnadet

Beitragvon Martho » Fr 29 Jun, 2012 20:23


In einem riesigen Karton wird ein neuer Bürostuhl angeliefert und Frau Krause meint, ich „dürfe“ ihn zusammenbauen. Frauen scheinen leider der irrigen Ansicht zu sein, alle Männer seien begnadete Handwerker und Bastler. Das mag zwar auf viele zutreffen, ich bin es mit Sicherheit nicht. Wenn ich zu Hause etwas werkeln muss, liegt immer eine große Rolle Küchenpapier neben mir, um das fröhlich tropfende Blut auf- und verschmiertes Werkzeug abzuwischen. Verbandszeug und Desinfektionsmittel habe ich selbstverständlich ebenfalls parat. Nach häuslichen werkeleien sind meine Hände oft dermaßen verpflastert, dass sie in dicken Handschuhen aus Hansaplast stecken. Natürlich könnte ich zum werkeln gleich richtige Arbeitshandschuhe anziehen, aber dann hätte ich doch kein Gefühl in den Fingern. Mit den Dingern kann man schließlich keine Schrauben festhalten, zumindest nicht richtig.
Aber zur Sache:
Der Mutige ist am tapfersten allein und so fühle ich mich im Moment auch. Nein, nicht mutig oder gar tapfer – nur allein. Ein weiterer kluger Spruch geistert mir dumpf hallend durch das dunkle Gewölbe meines leeren Schädels: „Scheitern ist immer mal erlaubt, aufgeben gar niemals nicht.“ Im Moment tendiere ich leider (zumindest gedanklich) mehr in Richtung „scheitern“.
Dennoch gehe ich logisch an die Sache heran, öffne erst einmal den Karton, packe sämtliche Teile aus und lege sie fein säuberlich auf den Tisch.
Die größeren Teile wie Sitzfläche, Lehne, Stuhlbein und das Drehkreuz, an das später die Räder kommen sollen, werden auf dem Boden zwischengelagert. Danach studiere ich intensiv, eine gute halbe Stunde lang, die Explosionszeichnung des Stuhles.
Meine nach Hilfe suchenden Blicke werden, von den ab und zu hereinschneienden „Aktivisten“ die sich ihren Kaffee holen, und wie der Storch im Salat über die Teile staksen, freundlich lächelnd ignoriert. Aufrichtiges Interesse an der Sache und Vertrauen in meine überragenden Fähigkeiten sind aber deutlich wahrnehmbar. Ratschläge werden ebenfalls sehr großzügig verteilt.
„Was die nicht können, kann ich schon lange nicht!“ denke ich trotzig.
Ermuntert durch die offensichtliche Unfähigkeit der anderen, mache ich mich ans Werk.
Die unterschiedlich großen Schrauben sind in ebenfalls unterschiedlich großen Tütchen verschweißt und interessanterweise genau abgezählt. Bloß keine verschlampen! Wenn mir auch nur eine einzige herunterfallen sollte, finde ich sie womöglich nie wieder. Ganz sicher sogar, denn ich bin ein Pechpilz. Vorsichtig öffne ich die Plastiktütchen, verteile Schrauben und die kleineren Einzelteile weiter auf dem Tisch. Dass ein lächerlicher Bürostuhl aus so vielen Teilen besteht! Unglaublich. Warum werden Stühle überhaupt als Bausatz verhökert? Was sagt Amnesty International dazu?
Am vernünftigsten scheint es mir, wie beim Hausbau an das Problemchen heranzugehen. Das Fundament ist schließlich die Wurzel der Basis einer jeden Grundlage! Ich stecke die Räder in die dafür vorgesehenen Öffnungen des Drehkreuzes, was schon mal ganz gut klappt. Als nächstes wird das Stuhlbein eingepflanzt. Noch kein einziges Tröpfchen Blut geflossen! Etwas mutiger geworden, wird die Sitzfläche montiert. Kleinigkeit! Vielleicht hätte ich doch zuerst die Armlehnen daran befestigen sollen. Macht nix, jetzt weiß ich ja schon, wie so eine Sitzfläche montiert wird, dann kann ich sie auch wieder abmachen. Die Armlehnen sind ruckzuck draufgesteckt und festgeschraubt. Die Sitzfläche ist 5 Minuten später auch wieder auf den Rädern. Jaha, wer die Übersicht zu wahren weiß, dem ist nichts zu schwer. Mit dem verbinden der Rückenlehne an die Sitzfläche sind keinerlei Schwierigkeiten verbunden. Draufgesteckt und festgeschraubt. Geht erstaunlich fix. Gerade taucht Frau Strahmer auf, um ihren unterkühlten Tee zu holen. Da ich den Eindruck habe, dass es nichts zu verbessern gibt, frage ich ob sie vielleicht einmal testsitzen will. Ihr Vertrauen in die Mannschheit scheint unerschütterlich und fester, als mein Glaube an mich selbst. Furchtlos nimmt sie darauf Platz. Nichts passiert. Der Stuhl ist stabil.

Monate später habe ich noch nicht gehört, dass sie damit zusammengebrochen sei, zumindest habe ich nichts derartiges in der hiesigen Zeitung gelesen.

Die übriggebliebenen Schrauben bewahre ich heute noch als Andenken.
Was als störendes Sandkorn beginnt, maustert sich oft zur Perle.
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cube (Do 18 Okt, 2012 12:18)
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Re: Begnadet

Beitragvon struktur-los » Sa 30 Jun, 2012 10:58


Hallo Martho,

mir gefällt dein Text - du hast mich zum Schmunzeln gebracht. :)

Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass (alle) Männer begnadete Handwerker und Bastler sind. Ich denke, einige sind Handwerker und andere sind eben Bastler.. =) .. da gibt es ja die verschiedensten Materialien, die bearbeitet werden können.. und ohnehin, sind ja auch nicht alle Frauen begnadete Sammlerinnen und Köchinnen... blubb.

Was ich schade finde, ist, dass mich das Ende nicht wirklich aus den Socken geschmissen hat... habe irgendwie etwas anderes erwartet - frag mich nicht, was. Das mit den Schrauben ist nicht unbedingt einfallslos, kommt mir aber zu trocken rüber... weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll - hm.

Falls es dich interessiert, wie ich das Ende gestalten würde... schreib mal, ich hätte Lust, mir darüber Gedanken zu machen.. :)

Liebe Grüße
strukti
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Re: Begnadet

Beitragvon Martho » Sa 30 Jun, 2012 14:50


Hallo struktur-los!

So ist es geschehen, das wahre Leben ist leider ziemlich unspektakulär. Du hast aber sicher recht, ich hätte mehr daraus machen können. Ich konnte doch nicht damit rechnen, daß hier jemand mitliest. :D
Was wohl Frau Strahmer (Namen sind selbstverständlich geändert) denkt, sollte sie diese Zeilen lesen? - Nein, sie hat sie gelesen. Panik, aufspringen, Stuhl umwerfen und kontrollieren der Befestigungsschrauben? Sicher. Unspektakuläre Panik.
Ein anderes Ende? Warum nicht? Lass uns dem Leben ein wenig auf die Sprünge helfen!

NG, Martho
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Re: Begnadet

Beitragvon struktur-los » So 01 Jul, 2012 10:26


Hey Martho,

du schreibst hier vom "wahren Leben" - oh man - weiß nicht so recht, ob es mir da zusteht, ein anderes Ende zu konstruieren. :eek:

Ich mach' mir dennoch gerne mal Gedanken dazu ... bis dann. ; )


VG struktur-los
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Re: Begnadet

Beitragvon rivus » Mo 02 Jul, 2012 22:06


hallo marto!

ich hab mich auch amüsiert und wurde durch deine geschichte an eine begebenheit erinnert, wo wir zwei teams in der family bildeten, um wettkampfmäßig je einen bürosessel zusammenzubauen und siehe da, die weibliche fraktion gewann, allerdings auch haushoch im vorteil, denn es gab frische erfahrungen meiner tochter im wat und wir, mein sohn & ich, studierten zulange die verzwickt beschriebene bauanleitung, um dann doch intuitiv zu bauen, weil die damen uns zeitlich schon zu sehr voraus schienen, mit einem ergebnis, das wir vertuschten, um nicht noch schlechter dazustehen .....

die geschichte ist witzig geschrieben und nichthandwerker, haben die eine oder andre situationskomik bestimmt schon ähnlich erlebt.

vg rivus

p.s.:

Nach häuslichen Werkeleien
zum Werkeln
in Richtung „Scheitern“.
Mit dem Verbinden
gibt, frage ich, ob sie
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Re: Begnadet

Beitragvon Martho » Mo 02 Jul, 2012 22:39


Hallo rivus!

Heißen Dank für deine freundlichen Worte.
Ja die Rechdschreihbumm. Mit der steh ich aufm Kriechsfus.
Seit den Rehformen. Häute hüh - Morgen hott!
Ich verlase mich nur noch auf mein bescheidenes Wissen und nutze keinerlei koregdur prorame.
Iss auch schohn zu speht. :D

LG Mardo
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Re: Begnadet

Beitragvon kokoschanell » Do 18 Okt, 2012 10:32


hi martho,
eine feine, satirische begebenheit
mit selbstkritisch, augenzwinkernder note.
wortwitz und klasse schluss.
gerne habe ich geschmunzelt und mitgelitten
ggg von koko
Vielleicht stünde es besser um die Welt, wenn die Menschen Maulkörbe und die Hunde Gesetze bekämen.

G.B. Shaw
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Re: Begnadet

Beitragvon Martho » Fr 19 Okt, 2012 20:00


Hallo kokoschanell,

danke für deine freundlichen Worte. Es ist leider so: Je mehr ich mich im Netz umsehe, desto mehr erkenne ich, wie schlecht ich schreibe. Nicht müde werdend zu erwähnen, dass ich noch lerne, weiß ich dennoch nicht, ob meine Schreiberei überhaupt zu irgendetwas gut ist. Wenn dann ein paar freundliche Worte unter meinem schwachen Geschreibsel auftauchen, gibt mir das wieder ein wenig Auftrieb. Um künftigem Unsinn zu entgehen, kannst du deinen Kommentar immer noch ändern bzw ändern lassen. :D

LG, Martho
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Re: Begnadet

Beitragvon kokoschanell » Mo 22 Okt, 2012 09:00


lächel. ich habe schon schlechteres gelesen...GGG von koko
Vielleicht stünde es besser um die Welt, wenn die Menschen Maulkörbe und die Hunde Gesetze bekämen.

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