Pessimistische Lyrik

Der Enttäuschte

Beitragvon Nachfrager » Sa 04 Jan, 2014 17:40


Versenk dein Ideal tief in der Spree,
die Zeiten werden rau, sie sind nicht so.
Jetzt heißt es springen, nur noch: Hopp, alléz!
Vorbei dein Traum vom Dulci jubilo.

Sehr schnell warst du den sichern Posten los,
und keiner half dir, du warst ganz allein.
Dein Ideal war bisher kostenlos,
jetzt kostets was, das siehst du endlich ein.

Wie bitterböse blickst du in die Welt.
Wo ist denn nur der Mensch, der dich versteht
und der noch was von Idealen hält?
Beinah kommst du dir vor wie ein Ästhet.

Du orientierst dich um. Fällt nicht ganz leicht.
Es hilft ja nichts, man pfeift aufs Ideal.
Dein ganzes Leben warst du drauf geeicht,
doch du begreifst: Es war, es war einmal.
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Re: Der Enttäuschte

Beitragvon rivus » So 05 Jan, 2014 10:26


Hallo Nachfager!



Der Titel kündigt schon an, dass hier Einer sehr enttäuscht ist. Hier geht es darum den Verlust eines Ideals einzuordnen. Das Lyr-Du betrachtet sich von außen. Er kann im Gegenwärtigen nur noch sein Ideal sehr tief in die Spree versenken, fast wie ein Nibelungenschatz, der irgendwann wieder geborgen werden kann. Es geht um einen Verlust an Autonomie, die zu andren Zeiten gelebt werden konnte. Der Existenzsicherung wegen wurde das Lyr-Du vermutlich in eine Rolle gedrängt, wo Fremdbestimmung an der Tagesordnung ist und das holde und hohe Ideal sogar die Zauberkraft des Traumes verliert.

In der zweiten Strophe wird ausgebildert, dass das Lyr-Du sogar einen einst sicher geglaubten Posten verlor und er, ganz im Sinne von Lion Feuchtwanger's "Wenn es hart auf hart kommt, ist man immer allein!", überleben musste. Das Lyr-du konnte das zwar bewerkstelligen, aber um der Preis des Verrats am Ideal, welches nun sogar, in der Welt der Geldwertung etwas kostet: Würde das Lyr-Du daran festhalten, würde es möglicherweise sein Existenz verlieren. Ein bitterer Tauschwert.


In der dritten Strophe hält das verbitterte Lyr-Du nach einem Lyr-Ich Ausschau, der ebenso an seinem Ideal noch festhält und es verstehen kann, aber es muss auch feststellen, dass er sich zu sehr abhebt, es zu einer Ästhetisierung seiner Vorstellung kommt, die ihn in die Rolle des Ästheten drängt und ihn somit vereinzelt und vom Leben, sowohl vom Idealischen als auch vom Wirklichen abkoppelt.


In der vierten Strophe wird lakonisch der Status quo dargelegt. Der Status in spe ist einer, der sich nach Vorstellungen richten wird, die das ursprüngliche Ideal endgültig ins Reich der Märchen verortet.


VG der Rivus





P.s.: Bist du ein Spreeverwurzelter?
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Re: Der Enttäuschte

Beitragvon Nachfrager » Mo 06 Jan, 2014 07:25


Hallo rivus,

ich würde, wenn ich nur halb so nüchtern wäre, wie ich bin, jetzt in Begeisterung ausbrechen und dir Dank sagen dafür, dass du den Text in allen Nuancen verstanden hast. Passiert mir nicht oft. Das ist nicht nur ein wirklich gut durchdachter Kommentar, sondern einfach das, was man von einem Kommentar erwarten müsste. Die Sicht aufs Handwerk hast du zwar ausgelassen,
aber das finde ich in diesem Fall ganz in Ordnung. Hab also meinen besten Dank für die Beschäftigung mit dem Text. Deine Frage nach der Spree: Beantworte ich mit Ja.

Ich grüße dich, Nachfrager
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Re: Der Enttäuschte

Beitragvon rivus » Mo 06 Jan, 2014 22:54


Hallo Nachfrager!

Hm, die Sicht aufs Handwerk überlasse ich gern anderen. Dazu habe ich immer noch keine fundierten Grundlagen. Ich nähere mich den Texten zumeist von der interpretatorischen und assoziativen Seite. Fein, dass ich deinen Text gut abtasten konnte ....


Ich grüße dich zurück, Rivus
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