Alle epischen Texte, die in keine andere Kategorie passen

Erinnerungssumme

Beitragvon Antibegone » Do 13 Nov, 2008 15:35


„Du kannst alles um dich herum verändern. Du kannst hin gehen, wo du willst. Das bringt dir gar nichts – du wirst dich dadurch nicht ändern.“
…….Rampenlicht wie ein Vorhang. Meine eigene Stimme, selbst mein Herzschlag klang fremd. Ich nahm mich zusammen, versuchte hinter dem leuchtenden Vorhang der Jury in die Augen zu sehen. Wie aus einem Kassettenrekorder spulten sich die Wörter über meine Lippen ab, meine Arme hoben und senkten sich. Ich hatte mein Bestes gegeben. „Der Nächste, bitte.“ Es hatte nicht gereicht.
…….Laute Noten vibrierten auf dem Boden. „Guck mal, siehst du die Tussi mit dem glitzernden Top?“ - „Die da?“ - „Nein, die da hinten mit den schlecht gefärbten, blonden Haaren.“ - „Ach, die, die aussieht wie 'ne Nutte?“ - „Ja, die, wie die tanzt … ob die an so 'nem Hyperaktivitätssyndrom leidet?“ Die Lacher waren auf Sonjas Seite. Ich zögerte: „Über so was macht man keine Scherze.“ Die schiefen Blicke waren auf meiner Seite.
Gespräche, Rufe, Lautsprecher. Ich stehe vor der Glasscheibe, lege meine Hände in die schon vorhandenen weißen Berührungen, da hinten ist sein Flugzeug, noch eine halbe Stunde, bis die Passagiere einsteigen.
…….„Ich möchte doch einfach nur wissen, wem der Fehler passiert ist.“ Herr Niemann schaute in die Runde seiner Angestellten. Frist verstrichen. Nicht abgeschickt. So und so viel Euro Schaden. Ich wurde nicht rot, das wusste ich, aber es fühlte sich so an. „Ich war das.“
Ich fühlte mich schlecht, ich wollte ihn berühren, aber das konnte ich nicht. Wir waren zu weit gegangen. Wie sehr ich hoffte, dass er mich nicht verachtete.
…….Nina war eines der Mädchen, das überall eingeladen wurde, die man immer am lautesten lachen hörte. Ich mochte sie nicht sonderlich, ich wusste nicht wieso, aber sie war gut darin mir Gründe zu geben. Eines Tages, bei einer Feier, sagte ich: „Ich weiß, wir mögen uns nicht. Aber ich glaube, wir sind uns ziemlich ähnlich. Ich respektiere dich, du gehst deinen eigenen Weg.“ Sie nahm mich in den Arm.
Ich lächle in mich hinein, jeder kann sehen, dass ich glücklich bin. Natürlich schaut keiner hin.
„Ich muss gehen“, sagte er.
Drehrassel: "Als Lyriker sollte man eine ahnende Checkung haben, von dem, was man da macht."
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Re: Erinnerungssumme

Beitragvon Antibegone » Do 20 Nov, 2008 15:42


Huhu Alan :-)


Ich glaube nicht, dass du dich verlaufen hast.
Ich mag deine Interpretation des Textes; sie ist äußerst spannend und legitim. Ich habe dir sehr zu danken für deinen Kommentar, den du natürlich immer gerne abgeben kannst :-)

Zwar habe ich mir bei der Geschichte etwas anderes gedacht, aber sie ist ja mit Absicht offen gehalten. Deswegen möchte ich jetzt auch gar nicht lang und breit meine eigene Intention darlegen und sie als „richtige Interpretation“ hinstellen. Ich freue mich einfach, dass man den Text so schön interpretieren kann, wie du es getan hast.
Und das Thema scheint ja erkennbar gewesen zu sein: Es geht um diese problematische Beziehung zwischen dem „Ich“ und „Ihm“.

Ich weiß nicht, inwieweit meine Antwort für dich jetzt unbefriedigend ist, weil ich nicht explizit auf deine Interpretation eingehe und einfach nur sage, dass sich mich anspricht. Lass es mich einfach wissen, wenn du magst :-)


Ganz liebe Grüße,
Traumi
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Re: Erinnerungssumme

Beitragvon Antibegone » Sa 22 Nov, 2008 18:09


Lieber Alan :-)
(ich will dich ja nicht erschrecken ;-) )


Vorallem begann ich irgendwann damit, mich an Wörtern aufzuhängen und zu hinterfragen,


Man merkt, dass du jedem Wort Bedeutung zugemessen hast und mühevoll „übersetzt“ hast; das macht, finde ich, deine Interpretation so gut ;-)
Und ja, du hast Recht; ich habe auch sehr lange gesessen, mir jedes einzelne Wort zu suchen und einen Platz dafür zu finden. Freut mich, dass du es als solchen empfunden hast.

Ich glaube auch zu verstehen, was du meinst mittlerweile


Ja, was denn, wenn ich mal ganz neugierig fragen darf?


Herzliche Grüße,
die Traumi
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Re: Erinnerungssumme

Beitragvon Antibegone » Sa 22 Nov, 2008 18:37


*lach*

du willst du ungeheuere Neugierde der Traumi unbefriedigt lassen? ;(

aber klar, darfst du mir das nicht erlauben :)
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Re: Erinnerungssumme

Beitragvon Blackboxblood » Sa 22 Nov, 2008 23:26


Liebe Traumwaechterin,

Ich hab dir versprochen das ich mal deine Texte lese.

Wie du und Jennifer mir erzähltet bevorzugt ihr Kritik die auf Sympathien beruht der Objektiven.

Darum will ich auch auf deine Screiberischen fähigkeiten nicht eingehen.

Mir gefällt das Thema an sich nicht, weil ich generell keinen Spass daran habe etwas über Frauengezicke zu lesen.

Wahrscheinlich gehör ich auch nicht in die sorte Menschen die du mit dem Text erreichen willst.

groß
bbb
Wer nicht gestorben ist, ist es nicht Wert.
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Re: Erinnerungssumme

Beitragvon Antibegone » So 23 Nov, 2008 13:00


huhu Blackboxblood :-)


Es ist schade, wenn dir die Geschichte nicht gefällt, aber natürlich auch legitim.

Mir gefällt das Thema an sich nicht, weil ich generell keinen Spass daran habe etwas über Frauengezicke zu lesen.


Das Thema hatte ich eigentlich anders angelegt, d.h. es sollte nicht um „Frauengezicke“ gehen.

Danke für deinen Kommentar
Und liebe Grüße,
Traumi
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Re: Erinnerungssumme

Beitragvon Struppigel » Di 25 Nov, 2008 20:10


Hallo Traumwächterin,

nach mehrmaligem Lesen habe ich nun auch eine Antwort für mich gefunden.
Ich glaube das, was gerade passiert, sind die Szenen mit dem unbekannten Er - eingerahmt von diesem Gespräch:
„Du kannst alles um dich verändern, du kannst hin gehen, wo du willst, das bringt dir gar nichts – du wirst derselbe Mensch bleiben.“[...]
„Ich muss gehen“, sagte er.

Die Jetzt-Zeit:
Gespräche, Rufe, Lautsprecher. Ich stehe vor der Glasscheibe, lege meine Hände in die schon vorhandenen weißen Berührungen, da hinten ist sein Flugzeug, noch eine halbe Stunde, bis die Passagiere einsteigen. [...]
Ich fühlte mich schlecht, ich wollte ihn berühren, aber das würde ich nicht, er war zu weit weg. Wie sehr ich hoffte, dass er mich nicht verachtete.[...]

Diese Dinge betrachte ich als die Essenz Deiner Geschichte. Zuerst hat es dieses Gespräch mit einem dem Ich-Erzähler sehr wichtigen Menschen gegeben und dann reist dieser jemand sehr weit weg - mit dem Flugzeug auf und davon. Der Ich-Erzähler sieht ihm traurig nach und fühlt sich dabei wie ein Versager. Alle Momente, in denen sich der Erzähler ähnlich gefühlt hat, tauchen in seinen Erinnerungen auf. Das ist das Versagen vor einer Jury, das Spielverderber-Sein vor den anderen, der grobe Fehler bei einem Job.
Da dieses Sich-Lustig-Machen gleich zweimal auftaucht, glaube ich, dass es auch eine wichtige Rolle spielt. Vielleicht wurde sich unter anderem über diesen Er, der abgereist ist, lustig gemacht. Vielleicht leidet er an Hyperaktivität - dies würde auch zu seiner Ruhelosigkeit, seinem Verreisen passen. Allerdings will mir das noch nicht hundertprozentig gefallen.

„Ich weiß, wir mögen uns nicht. Aber ich glaube, wir sind uns ziemlich ähnlich. Ich respektiere dich, du gehst deinen eigenen Weg.“ Sie nahm mich in den Arm.

Möglicherweise sieht der Erzähler Ähnlichkeit darin, dass sie sich beide hinter sich selbst verstecken. Aber auch hier will mir der Zusammenhang zu diesem Er nicht gelingen.
Auffällig ist, dass der Erzähler die verhasste Nina respektiert, weil sie ihren eigenen Weg geht, aber den eigenen Weg des unbekannten Er nicht gutheißt.
Ich lächle in mich hinein, jeder kann sehen, dass ich glücklich bin. Natürlich schaut keiner hin.
Das erste ist ironisch gemeint - eine Maske. Oberflächlichkeit beherrscht offenbar die Menschen um den Ich-Erzähler herum (darum das Sich-Lustig-Machen und Nicht-Erkennen wie es dem Erzähler wirklich geht)

Der Titel ist übrigens sehr passend und fiel mir immer wieder auf.
Meine Interpretation will mir noch gar nicht gefallen.

Liebe Grüße
Struppi
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Re: Erinnerungssumme

Beitragvon Antibegone » Do 27 Nov, 2008 14:37


Huhu Struppi :-)

Erst einmal vielen lieben Dank für deinen Kommentar und für die Nominierung :-)

Ich glaube das, was gerade passiert, sind die Szenen mit dem unbekannten Er - eingerahmt von diesem Gespräch:


Ja, so war das gedacht. Hast du gut erkannt ;-)
Auch die Jetzt-Zeit hast du gut auf den Punkt gebracht – sie spielt sich als eine Art ferne Abschiedsszene am Flughafen ab.

Der Ich-Erzähler sieht ihm traurig nach und fühlt sich dabei wie ein Versager


Das ist eine interessante Interpretation. Ich sehe, wie sie in sich schlüssig ist, zusammen mit der Schlussbetrachtung, die auch divergent zu meiner eigenen Intention läuft. Ich finde das wirklich spannend, gerade weil du dadurch, dass du diesen Abschnitt „Ich fühlte mich schlecht, ich wollte ihn berühren, aber das würde ich nicht, er war zu weit weg. Wie sehr ich hoffte, dass er mich nicht verachtete.[...]“ in die Erzählgegenwart einordnest, auf ein Versagensgefühl, das sich bis in das Jetzt hineinzieht, kommst. Dementsprechend siehst du diesen Satz „Ich lächle in mich hinein, jeder kann sehen, dass ich glücklich bin. Natürlich schaut keiner hin“ folgerichtig als Ironie.


Alle Momente, in denen sich der Erzähler ähnlich gefühlt hat, tauchen in seinen Erinnerungen auf.


Ja, ich habe den Aufbau an den Gefühlen des Erzählers orientiert.

Das ist das Versagen vor einer Jury, das Spielverderber-Sein vor den anderen, der grobe Fehler bei einem Job.


Das ist auch interessant; du siehst die Erinnerungen als „Momente des Versagens“ an, als „Momente der Schwäche“.

Ich weiß jetzt gar nicht, ob mein Text dort irgendwo „hinkt“, weil meine Intention überhaupt nicht klar zu werden scheint – oder, ob es vielleicht gut ist, wenn er so offen ist, dass man es wirklich in total verschiedene Richtungen interpretieren kann. Ich glaub, ich mach mir da noch mal Gedanken und würde dich gerne fragen, ob du es für sinnvoll hältst die Geschichte „klarer zu fassen“?

Mit vielen lieben Grüßen und einem erneuten Dank für deine spannenden Gedanken,
Deine Traumi
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Re: Erinnerungssumme

Beitragvon Struppigel » Do 27 Nov, 2008 16:49


Hi Traumi,

selbst jetzt, da Du mich auf die Nase stößt, dass die Gefühle eben nicht alle ein Versagen bedeuten müssen, sehe ich trotzdem noch nichts für mich, das mir besser als Deutung passen würde. Aber ich war ja deswegen unzufrieden, weil beispielsweise diese Stelle
Ich zögerte: „Über so was macht man keine Scherze.“ Die schiefen Blicke waren auf meiner Seite.
auch für mich kein echtes Versagen ausdrückt - im Gegenteil. Vielleicht zeigt es, dass sie ihren eigenen Weg geht - aber was das mit dem Er zu tun hat und inwiefern es zu den (für mich so gedeuteten) anderen Versagerstellen (Job und Jury) passt, kann ich mir nicht zusammenreimen.
Den Satz "jeder kann sehen, dass ich glücklich bin", sehe ich deswegen als Ironie, weil nach dem "Jeder kann sehen" gleich das "Natürlich schaut keiner hin" folgt. Wie können sie sehen, wenn sie nicht hinschauen? Nehme ich den Satz nicht ironisch, habe ich hier einen Widerspruch.
Ich bin sicherlich nicht der beste Interpret - dass ich nicht auf die Intention komme, muss also nicht unbedingt etwas heißen. Aber mir wäre es tatsächlich lieber, die Geschichte wäre einen Tick deutlicher.

Liebe Grüße
Struppi
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Re: Erinnerungssumme

Beitragvon Antibegone » Do 27 Nov, 2008 17:14


Huhu Struppi :-)

da Du mich auf die Nase stößt


Uhhh, das tut mir leid; ich wollte dich ganz sicher nicht in irgendeiner Weise „korrigieren“ oder dich auf irgendetwas stoßen.

Tatsächlich sind diese Momente – für mich persönlich - alle keine Indikatoren des Versagens. Ich sehe es als Stärke, sich gegen Leute/ den Gruppenzwang zu stellen oder auch Fehler einzugestehen, wie in der Büroszene. Auch vor einer Jury zu stehen und es nicht zu schaffen, ist meiner Ansicht nach kein Versagen. Für mich zählt, „sein Bestes zu tun“, auch wenn man vielleicht schon weiß, dass es nicht reichen wird.
Mir ist bewusst, dass nicht jeder meiner Meinung ist (wäre ja schrecklich), insofern ist es absolut legitim ein Versagen zu erkennen.

Den Satz "jeder kann sehen, dass ich glücklich bin", sehe ich deswegen als Ironie, weil nach dem "Jeder kann sehen" gleich das "Natürlich schaut keiner hin" folgt. Wie können sie sehen, wenn sie nicht hinschauen? Nehme ich den Satz nicht ironisch, habe ich hier einen Widerspruch.


Sie sehen es ja, sie scheren sich nur nicht darum. Das „Hinschauen“ sollte etwas Bewusstes ausdrücken, was im Gegensatz dazu steht, dass sie es ja tatsächlich beiläufig sehen. Es sollte eine Art „inneres Glück“ beschreiben, das selbst zufrieden ist und auch keine Aufmerksamkeit braucht.

Ich bin sicherlich nicht der beste Interpret


Lach, doch, du bist die Beste ;-)

Ich will mich gerne noch einmal dran setzen und versuchen es zu „verdeutlichen“. Auf der anderen Seite; es geht eben um eine sehr komplexe Beziehung zwischen „Ich“ und „Ihm“ und das möchte ich nicht zu stark vereinfachen …

Ganz liebe Grüße,
von der Traumi

EDIT: ich habe noch ein paar Kleinigkeiten an der Geschichte bearbeitet; vor allen die der gemeinsamen Vergangenheit zwischen "ich" und "ihm". Vielleicht wird es ja jetzt ein bisschen klarer, aber ich bin unsicher, ob ich es nicht verschlimmert habe?
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