Grenzgang

Beitragvon SabineK63 » Mo 01 Feb, 2010 16:05


Als ich aufwachte, war ich tot.

Es hatte kein Wunder gegeben. Ich hatte auch keines erwartet. Wie immer stand ich auf, kleidete mich an und verließ das Haus. Auf mein Grüßen antwortete niemand. Blicke glitten durch mich hindurch. Wenn ich von meinem Spaziergang zurück käme, wäre meine Haustür von Trauerflor umsäumt. Drei Tage lang säßen sie alle in meinem Wohnzimmer und klagten. Drei Tage könnte ich zuhören, was sie über mich zu erzählen hätten. In den drei Tagen würden sie meine Habseligkeiten unter sich verteilen, Tee trinken und Hefezopf dazu essen.

Nach den drei Tagen müsste ich weichen, ein Geist, unrein. Durch die weit geöffneten Fenster und Türen würde ich unter Klappern und Schreien, vom Rauch des Lorbeerfeuers getragen, hinaus getrieben. Wen ich berührte, der wäre tot. Wie ich. Als Kinder hatten wir einmal Totsein gespielt. Kreischend hatten wir einander durch die Berührung unserer Finger getötet. Solange, bis Großmutter kreidebleich vor uns gestanden hatte. Danach hatten wir das Spiel nie wieder gespielt.

Die Toten könnten einander sehen, sagt man. Nachgewiesen hatte es noch niemand. Bis jetzt hatte ich nur Lebende gesehen, keinen einzigen Toten. Es sei denn, sie wären alle über Nacht gestorben, meine Mutter, mein Bruder, mein Freund und die Nachbarn.

Vielleicht gab es ja ein eigenes Land für die Toten. Eines, das den Lebenden verborgen blieb. Die Suche nach dem verborgenen Land wäre ein Abenteuer. Etwas, mit dem ich nicht mehr gerechnet hatte. Im Leben waren Abenteuer verboten. Die Gedanken mussten immer im Greifbaren bleiben, auf den befestigten Wegen. Nicht querdenken, nicht träumen! Wegen meiner Träume war ich jetzt tot.

Man hatte mich gewarnt, oft, aber ich konnte nicht anders. Die Lieder, die ich träumte, waren lebendig und sie wollten gesungen werden. Ich wusste nie, woher sie kamen. Die Worte flossen von meinen Lippen wie Wasser aus einem überlaufenden Fass.

Alles war so friedlich, so ruhig, so geordnet; kein Zank, keine Gefahr, kein wildes Tier, kein Feind. Die Grenzen waren klar, jeder kannte die Regeln. Jedermann war freundlich und hilfsbereit, nur ich mittendrin ohne Rast. Die Pastellfarben der Häuser, die sanft gewellten Hügel, die dornenlosen Büsche und der Schäfchenwolkenhimmel, sie schienen mich zu erdrücken und die Worte aus mir herauszupressen, die von Blut, Gier, Hass und Leid erzählten, unaufhaltsam, ein Quell von Eiter, dessen Ursprung ich nicht kannte. Kratzen wollte ich an ihren Fassaden, den rosa Zuckerguss mit Blut tränken, ihre Gesichter sich zu Fratzen verzerren sehen.

Man hatte mich gewarnt, mich verwarnt, mir gedroht. Man hatte mir eine letzte Frist gesetzt. Die war abgelaufen.

Dann starb ich, wie angekündigt. Niemand war da, um die Vollstreckung abzuwenden. In der Nacht kamen der Richter und der Henker. Von der Tür nahmen sie mein Namensschild ab, warfen es zu Boden, wo es in tausende Splitter zersprang. An den leeren Platz nagelten sie das Zeichen.

Für einen Augenblick meinte ich, das Pochen zu hören. Dann träumte ich von einer wilden Horde, die auf Drachenrücken durch den Frieden preschte. Ich ritt vorneweg und schwang die Fackel. Die Kohlegerippe der Häuser grinsten mich glühend an. Als ich erwachte, war ich tot.

Die drei Tage werde ich nicht abwarten. Ich gehe jetzt gleich. Hinter dem nächsten Hügel beginnt das Abenteuer, es zieht mich mit aller Macht. Sollen sie doch klagen! Die Welt endet nicht an der Grenze des Dorfes. Da draußen gibt es noch etwas. Es wartet auf mich.

________________________


[size=85:y60bwflf]Der Fairness wegen, ein Übungstext für ein anderes Forum mit der Vorgabe des ersten Satzes. Da ich sonst derzeit wenig bis nichts schreibe, gebe ich Euch die Gelegenheit, diesen zu zerfleischen.[/size]
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Re: Grenzgang

Beitragvon Orange » Di 16 Feb, 2010 10:09


Wen ich berührte, der wäre tot.
Den Satzbau find ich etwas eigenartig.
Wegen meiner Träume war ich jetzt tot.
Warum führst du das nicht näher aus? Das wäre interessant!
ein Quell von Eiter, dessen Ursprung ich nicht kannte.
Das find ich kling einfach übertrieben!
Ich finde dein Text bleibt ein wenig oberflächlich. Die Idee aus der Perspektive einer Toten zu schreiben, ist zwar nicht neu, aber mir gefällt sie. Das Problem ist nur, dass du viele Sachen viel zu wenig ausführst. Wo hat sie gelebt? Wie kann sie als Tote Abenteuer erleben? Wer hat sie ermordet und warum? Ich finde zwar schon, dass eine Geschichte Fragen offen lassen darf/kann/soll/muss, aber das sind mir zu viele.
Ich hoffe du kannst etwas mit meinen Anmerkungen anfangen!
Sonnige Grüße
Orange
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Re: Grenzgang

Beitragvon SabineK63 » Mi 17 Feb, 2010 08:42


Guten Morgen Orange,

dank Dir fürs Lesen und Deinen Kommentar. Das etwas Umständliche und auch das, was auf Dich übertrieben wirkt, sind von mir durchaus so gewollt. Die Idee, die Du gut findest, war mit dem ersten Satz bei der Übung vorgegeben, so dass ich mir leider diese Feder nicht an den nicht vorhandenen Hut heften kann. ;)

Wer hat sie ermordet und warum?
Niemand hat sie ermordet.

Wo hat sie gelebt?
In einer kleinen, eingegrenzten Welt.

Wie kann sie als Tote Abenteuer erleben?
Könnte sie nicht. (Obwohl, wer hat das schon nachgeprüft, außer Orpheus, als er in die Unterwelt hinab stieg?)

Auch, wenn ich an Dir scheints vorbeigeschrieben habe, kann ich Deine Sichtweise nachvollziehen. Für eine gegenständliche Kurzgeschichte enthält der Text zu wenig Informationen.

Lieben Gruß
Sabine
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Re: Grenzgang

Beitragvon rivus » Mi 17 Feb, 2010 23:01


hallo SabineK63,

hier nur etwas fragmentarisches

als immerwährender grenzgänger habe ich deinen grenzgang gelesen. da ich meist nur eine interpretatorische annäherung zustande bringe, kann ich dir nicht mit einer hilfreichen kritik dienen.

dein wiedergang beginnt zunächst fast banal u. animiert jedoch trotzdem, dem mal nachgehen u. ebenso zu lauschen wie deinem protagonisten. sicherlich würde es ähnlich ablaufen u. schon will ich mit dem lesen aufhören, als die geschichte eine wendung nimmt. das erzählich verschwindet aus dem heimathaus, nimmt aber die kraft des todes mit. warum das geschah, wird episodisch aus einer kindheitserinnerung heraus erzählt. der schreck sitzt nicht nur der protagonistin im nacken, sondern ist auch dem leser nachvollziehbar.

aus altem brauch wurde aber auch berichtet, dass die toten sich selbst sehen könnten u. dies scheint noch nicht überprüft worden zu sein u. so gestaltet sich aus einer handlungsoption heraus eine ungeahnte möglichkeit. die fatale situation könnte gerettet werden, zumindest ein abenteuer ist drin!


nun resümiert die solchermaßen wiederbelebte, die erst als tote das tun kann, was ihr im leben verboten war. sie kramt auch die alten vorhaltungen wieder vor, um sich zu erinnern, dass ihr genau dieses schicksal prophezeit worden war. sie holt die geschichten in ihr gedächtnis zurück u. analysiert für sich ihren wachsenden hass auf alles fassadenhafte. doch bringt ihr die synthese der eigenen geschichte, nicht ihre wurzeln zurück, sondern die mitmenschlichen bedrohungen von einst werden nochmals verlebendigt, auch die vollstreckung des heimes u. gründliche tilgung des namens durch die splitterungen des namensschildes

" In der Nacht kam der Richter, sein eigener Henker." also diesen satz kann ich nicht nachvollziehen, denn wenn der richter sein eigener henker ist, muss er ja sich selbst umbringen u. das tut er in meiner leseweise deines textes nicht!

durch die nagelung eines besonderen, eines verbannungszeichens? war also das ursprüngliche ich endgültig aus den sinnen der anderen entfernt.

doch gab es auch einen traum, der das erzählich als anführerin einer wilden horde offerierte u. als unruhestifterin u. friedensbrecherin den häusern u. mitmenschen das garaus machte.

also es gibt noch einen widerspruch für mich in deiner geschichte. einmal starb das ich, bevor der richter kam u. dann träumte es doch noch weiter, um nach dem traum tot aufzuwachen ?

und auch das ende wie der anfang der geschichte lassen mich mit einer frage zurück. warum klagen denn einige mitmenschen? heuchlerisch?

grüße

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Re: Grenzgang

Beitragvon SabineK63 » Sa 20 Feb, 2010 13:16


Hallo rivus,

danke für Deine freundliche Begleitung des Lyrichs. Entschuldige die späte Antwort, mir sausen derzeit im realen Leben zu viele Dinge um die Ohren, so dass ich alles andere ziemlich vernachlässige.

Ein wenig hatte ich den Text vorher schon abgeändert, so dass z. B. der Richter und sein Henker zwei Personen wurden. Diesen einen logischen Bruch habe ich also beseitigt. Die anderen werden etwas schwieriger zu beheben sein.

Das Klagen erfolgte in meiner Vorstellung aus einer Tradition heraus. Ein Ritus, welcher mit der symbolischen Entfernung des Namens beginnt und mit der Vertreibung aus dem Bewusstsein endet. Wer sind wir noch, wenn wir nicht mehr wahrgenommen werden?

Die Zeitschleife, zurück zu der Vollstreckung des Urteils, ist scheints nicht deutlich genug abgesetzt. Da muss ich wohl noch mal an den Zeitformen feilen und den Teil zusätzlich vielleicht optisch hervorheben. Im vorgestellten Gedankenfluss schienen mir die Plusquamperfekt-Formen zum Teil zu störrisch.

Deine "Fragmente" geben mir genug Anstöße, den Text, nochmal zu überarbeiten. Es wird allerdings etwas länger dauern, weil ich dazu einen fürs Denken frei gestellten Kopf benötige.

Lieben Gruß
Sabine
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Re: Grenzgang

Beitragvon fritzagain » So 18 Apr, 2010 10:23


Liebe Sabine,

der Text ist gut. Das stete Ich-bezogen sein drückt a bisserl stark aufs Gemüt. Die Schwere hört man also raus.
Das Thema Tod beinhaltet das allerdings ohnehin.

Als ich aufwachte, war ich tot.

Starker Auftakt.

Es hatte kein Wunder gegeben.

Vielleicht besser: Das Wunder blieb aus.
Sorgt für Raum zwischen der stark Ich-bezogenen Überschrift und der Welt, die man kennen lernen soll.

Drei Tage könnte ich zuhören, was sie über mich zu erzählen hätten. In den drei Tagen würden sie meine Habseligkeiten unter sich verteilen, Tee trinken und Hefezopf dazu essen.

hier bist du stark oberflächlich vorgegangen. Die Spannung beim Lesen leidet. Tee, Hefezopf, Habseligkeiten sind keine starken Argumente, um weiter zu lesen.


Nach den drei Tagen müsste ich weichen, ein Geist, unrein. Durch die weit geöffneten Fenster und Türen würde ich unter Klappern und Schreien, vom Rauch des Lorbeerfeuers getragen, hinaus getrieben. Wen ich berührte, der wäre tot. Wie ich.


Das ist gut. Für sich alleine gestanden.
Im Kontext vielleicht besser:
Durch die weit geöffneten Fenster und Türen hinaus getrieben, Klappern und Schreie, vom Rauch des Lorbeerfeuers getragen. Wen ich berührte, der wäre tot. Wie ich.

Danach hatten wir das Spiel nie wieder gespielt.

Viel kürzer halten. So etwas wie einen Punkt finden.
Vorschlag: Das Spiel gab es danach nicht mehr.

Wie schon gesagt, der Text ist gut. Im Mittelteil gewinnen die Bilder. Das Ende ist jetzt nicht so gelungen. Obwohl der Satz
Die Welt endet nicht an der Grenze des Dorfes.

herausragend gut ist.

Nimm ein paar Ichs und meins weg und finde mehr "sachliche" Bezüge aus der Umgebung, Substantive.
Ich hoffe du kannst etwas damit anfangen.

LG Fritz
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