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Alle epischen Texte, die in keine andere Kategorie passen
von exmaex » Di 29 Jun, 2010 18:52
Ich gehe nach draußen. Die Luft fiebert auf der Haut. Unter mir kann man das Surren der Luft in Phantomschatten wiederfinden. Auf der langen Treppe zur Haltestelle befindet sich eine brüchige alte Frau. Ihr Kopf ist auf die Brust gesunken. Sie klammert sich mit dem Wenigen, was sie noch hat, an das Geländer und bewegt sich nicht. Um mein Gewissen zu beruhigen, frage ich nach ihrem Befinden und ob ich ihr helfen könne. Verkrampft blickt sie nach oben. Braune Krusten zieren ihre Mundwinkel. Sie konzentriert sich und stammelt, dass sie sich nur Zeit ließe, aber trotzdem danke. Ich weiß, dass sie lügt und lasse sie zurück. Fünf Minuten später. Wissentlich, dass sie sich keinen Meter bewegt hat, steige ich in die Straßenbahn. Der Geruch von Urin und Erbrochenem ist eigentlich das ganze Jahr über vorhanden. Erst durch die Hitze wird er wirklich erfahrbar und hinterlässt Schlieren im Raum. Nächste Haltestelle. Die Maschine verinnerlicht einen weiteren Stoß Menschen. Sie unterscheiden sich in einer mir unbekannten Weise. In ihren suchtgegerbten Gesichtern kann ich meine Zukunft fürchten lernen. Peristaltische Schübe pressen die Herde an mir vorüber. Ich besitze zu viel Empathie. Um dieser Umgebung entgegenzuwirken, nehme ich die zivilisierteste Haltung ein, zu der ich mich befähigt fühle und schirme mich mit Kopfhörern von allem Lebendem ab. Karin Dreijer Anderssons Stimme durchsetzt mein Bewusstsein mit der süßsauren Schwere von Essig. Ich starre nach draußen. Auf allen Seiten der hermetischen Scheibe befindet sich Evolution. Der Straßenfeger am Bahnhof weiß nicht, dass er sein Instrument im Rhythmus zu marble house spielt. Ich nehme es ihm übel. Nachdem meine wichtigen Unternehmungen getätigt sind, befinde ich mich wieder auf der Haltestellentreppe. Die Alte ist fort. Die Stelle, an der sie meine Hilfe abwies, ist auffallend sauber. Ein Fleck Reinheit im Schmutz. Vor meiner Haustür liegt ein Spatz. Ich frage nach seinem Befinden und ob ich ihm irgendwie helfen könne. Er antwortet mit Schweigen. Erleichtert kicke ich ihn ins Gebüsch.
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- Garfield (Mi 11 Mai, 2011 16:26), Neruda (So 12 Jun, 2011 16:15), struktur-los (Di 17 Mai, 2011 23:11)
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von Garfield » Do 08 Jul, 2010 20:52
Moin Mäx
Ich komme zu spät. Als ich die Geschichte zum ersten Mal gelesen habe waren mir ein paar Sachen ins Auge gefallen, die ich für verbesserungswürdig hielt. Bei deinen Überarbeitungen hast du aber genau diese verbessert...
(Mir fällt da noch die Stelle ein wo es hieß: und mir wird die Sinnlosigkeit von allem bewusst [frei zitiert], die hatte einfach nicht gepasst, weil zu platt, zu deutlich; oder die nun eingefügten Absätze.)
Das auch der Part mit "Liebe ist möglicherweise" raus ist finde ich aber etwas schade.
So bleibt mir nur noch Lob übrig: Mir gefällt die Geschichte sehr gut. Sie erzählt eine Alltagssituation und wirkt sehr authentisch. Dennoch ist sie literarisch und die Gedankenwelt des Prots wird auf interessante Weise vermittelt. Vorher gabs da ja noch ein paar Stellen wo es zu direkt/klischeehaft wurde (s.o.) aber diese Version regt zum Nachdenken über die Person des Prots an. Und manche Formulierungen sind einfach richtig gut gelungen.
So eine Kritik noch: Warum alles klein? Ich finde das erschwert nur das lesen, aber geht hier wohl als Stil durch....
Gruß Garf
Kurz, er bewies eine Geduld, vor der die hölzern-gleichmütige Geduld des Deutschen, die ja auf dessen langsamer, träger Blutzirkulation beruht, einfach gar nichts ist. Gogol - Die Toten Seelen
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von Struppigel » Fr 09 Jul, 2010 17:14
Hi exmaex,
sehr guter Text, da stimme ich Garf zu. Wie er sehe ich jedoch auch die Notwendigkeit der allgemeinen Kleinschreibung nicht.
befindet sich eine brüchige alte frau "brüchig" erschien mir im ersten Moment unpassend. Obwohl ich natürlich im Nachhinein sehe, dass es zur Abgrenzung des Erzählers von seinen Mitmenschen passt, die Frau mit einem Adjektiv zu versehen, das eher für Gegenstände typisch ist. Allerding heißt doch brüchig, dass Brüche, Risse oder ähnliches da sein müssen (anderenfalls meinst Du entweder gebrechlich oder gebrochen und nicht brüchig). Das passt für mich noch immer nicht.
Schön, wie der Erzähler sich als empathisch sieht, sein Gewissen mit Nachfragen beruhigt, sich aber trotzdem von allen anderen abschottet.
5 minuten später. fünf oder siehst Du einen Grund dafür, die Zahlen nicht auszuschreiben?
der geruch von urin und erbrochenem, der eigentlich das ganze jahr über vorhanden ist, wird erst durch die hitze erfahrbar Wenn der Geruch sonst nicht "erfahrbar" ist, existiert er meines Erachtens nicht.
die alte ist fort. die stelle, an der sie meine hilfe abwies, ist auffallend sauber. ein fleck reinheit im schmutz. Schöne (Text-)Stelle!
Viele Grüße Struppi
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von exmaex » Mo 12 Jul, 2010 11:51
hallo ihr beiden, vielen dank fürs feedback! mit der kleinschreibung geb ich euch recht, ich werds editieren (und die 5). @garf: die stellen, bei denen du "zu spät" :D kamst, resultierten aus dem schnellen und unreflektierten schreiben/posten. ein paar tage später bin ich dann nochmal mit etwas mehr distanz drüber und konnte einiges kürzen. oder die nun eingefügten Absätze
hö? Das auch der Part mit "Liebe ist möglicherweise" raus ist finde ich aber etwas schade.
ich fürchtete, der satz wäre neben dem straßenfeger dann doch zuviel sentimentales gelaber und hatte ihn wieder rausgeschmissen. @struppi: Allerding heißt doch brüchig, dass Brüche, Risse oder ähnliches da sein müssen
ich verstehe deinen vorbehalt. gebrechlich oder gebrochen sind in meinen augen aber stark standardisierte adjektive für alte oder demoralisierte menschen. ich wollte mit "brüchig" eine ungewohnte assoziation schaffen. ich verbinde dieses wort mit ruine, einer heruntergekommenen fassade, altem pergament... und möchte es daher so stehenlassen. Wenn der Geruch sonst nicht "erfahrbar" ist, existiert er meines Erachtens nicht.
hm, ich tue mich auch schwer mit der stelle. hättest du einen alternativvorschlag? also danke nochmal für die tipps/vorschläge :) soweit so exmaex
irgendwie
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von Struppigel » Mo 12 Jul, 2010 14:02
hm, ich tue mich auch schwer mit der stelle. hättest du einen alternativvorschlag?
Nichts wirklich Tolles. - wird erst durch die Hitze unerträglich (wertend im Gegensatz zu vorher)
- wird erst durch die Hitze aufdringlich/deutlich/nicht mehr ignorierbar (klingt so lala)
- kommt erst durch die Hitze richtig zur Geltung (ironische Komponente)
oder - wird erst durch die Hitze richtig/besonders/wirklich erfahrbar.
Damit hast Du es noch drin, dass es zu anderen Jahrenzeiten durchaus bemerkt wird, aber nicht richtig.
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von Drehrassel » Mo 12 Jul, 2010 14:31
ich habe einen vorschlag, der auch die syntax des satzes etwas... konziser und weniger umständlich macht, desweiteren eine semtantische verschiebung bedeutet und sowohl lapidar als aber auch merkwürdig wesentlich daher käme im zusammenhang mit der sinnlichen wahrnehumg des erzählers:
der geruch von urin und erbrochenem, eigentlich immer erfahrbar, jetzt aber, als ich ihn jetzt erst erfahre, hinterlässt schlieren im raum. ist das die hitze? *nächste haltestelle. [...]
das doppelte "jetzt" ganz bewusst. / dadurch dass der geruch zu einer anderen zeit, unter anderen "äußeren wie inneren" bedingungen nun in die sphäre des "erfahrbaren" verlegt ist, also in den möglichkeitsbereich einer sinnlichen wahrnehmung, die aber ja zu diesem zeitpunkt nicht gegeben ist, stellst du (stellt der erzähler) an dieser stelle nun meiner meinung nach die grundsätzliche frage nach dem "wirklichkeitsanspruch" sinnlicher data und ihrer sprachlichen vermittlung noch pointierter. - hm... naja, ich denk noch mal ein bisschen drüber nach, auch... :D interessante stelle.
_________
*vielleicht sogar noch einen einschub wie:" ist das die hitze? ist das meine nase? nächste haltestelle." / aber k.a. vielleicht führt das auch zu umwegen an der stelle. dein text ist ja vom anspruch her ein sehr dichter, ein bewusst sehr kurzer. man merkt auch deutlich den willen zu rhythmus und klanglichen stilmitteln. tendiert ein bisschen richtung poème en prose (was eine meine lieblingsgattungen ist). vorsicht ist also geboten, denn die charakterisierung des erzählers, sein auftreten und habitus könnten sich so leicht ändern.
dreimal selig, wer einen namen einführt ins lied!
- ossip mandelstam
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von exmaex » Mi 14 Jul, 2010 01:20
hejy dreh, auch dür mercü fürs füdböck! der auch die syntax des satzes etwas... konziser und weniger umständlich macht
öhm findest du wirklich, dass dein vorschlag weniger umständlich ist und nicht vom stil her wie ein bunter hund im text herausstechen würde? ebenso die frage an sich selbst. die wäre die einzige im text. ich hab mich erstmal für struppis galanten worteinschüb entschieden (dankeschön) und deine anmerkung bezüglich umständlichkeit aufzulösen versucht, indem ich zwei sätze draus gemacht habe. dennoch danke für den vorschlag. leibe grüße an alle, maex
irgendwie
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