von Peter Härtling
Mut und Liebe
Anna war zu Beginn des vierten Schuljahres neu in die Klasse gekommen. Herr Seibmann, der Klassenlehrer, hatte sie an einem Morgen vor sich durch die Tür geschoben und gesagt: Das ist eure neue Mitschülerin. Sie heißt Anna Mitschek. Seid nett zu ihr. Sie ist erst seit einem halben Jahr in Deutschland. Vorher lebte sie mit ihren Eltern in Polen.
Alles war komisch an Anna.
Sie hatte keine Jeans an, sondern ein zu langes, altmodisches Kleid. Sie hatte nur einen Zopf, und auch der war zu lang. Sie war blass und dünn und schniefte.
Ben fand Anna scheußlich.
Ein paar fingen an zu kichern.
Benehmt euch, sagte Herr Seibmann. Er setzte Anna neben Katja an den Tisch, und Katja rückte gleich ein bisschen weg von Anna. Anna tat so, als merkte sie das alles nicht.
Ben fand, Anna passe nicht in die Klasse. Er musterte sie noch einmal. Da hob sie den Kopf und guckte ihn an. Er fuhr richtig zusammen. Sie hatte riesige braune Augen, die waren ungeheuer traurig. Solche Augen hatte er noch nie gesehen. Er wusste auch nicht, wie er darauf kam, sie traurig zu finden. Er dachte: Solche Augen darf man nicht haben.Sie machen einem Angst. Er sah nicht mehr hin.
In den nächsten Tagen kümmerte sich niemand um Anna. Herr Seibmann mahnte die Klasse, nicht gemein zu sein. Wenn Anna wenigstens mal heulen würde, dachte Ben. Das tat sie nicht. Katja fand Anna ekelhaft. Die stinkt, meinte sie, und richtig schreiben kann sie auch nicht. Mit zehn kann sie nicht einmal richtig schreiben.
Bernhard sagte: Die kann vielleicht polnisch schreiben.
Die ist überhaupt keine Polin und keine Deutsche, sagte Katja.
Wahrscheinlich hat die in Polen nicht bleiben dürfen, meinte Bernhard.
Wegen Dauerstinken, sagte Katja.
Das war Ben zu viel. Er packte Katja am Arm. Hör bloß auf. Du stinkst doch selber.
Katja riss sich los und schrie so laut, dass es alle in der Klasse hören konnten. Der verteidigt Anna. Ben liebt Anna!