Der mathematische Beweis als Kunstobjekt
Cédric Villani trägt an seinem Jacket im Dandy-Stil eine große Brosche, welche den Körper einer Spinne nachbildet. Dabei ist er nicht auf einem Kostüm-Ball eingeladen. Es handelt sich um seine Alltagskleidung. Wenn man nicht wüsste, dass es sich bei Villani um einen Mathematiker handelt, dann könnte man aufgrund der exaltierten Kleidung vermuten, es mit einem Künstler zu tun zu haben. Oder ist Villani vielleicht Kraft seiner Tätigkeit als Mathematiker ein Künstler? Immerhin kreieren Mathematiker sinnlich wahrnehmbare Werke (Beweise), welche vom Publikum zuweilen als innovativ und schön bezeichnet werden. Im Rahmen dieses Textes soll die Frage beantwortet werden, ob mathematische Beweise Kunst sind. Wir beginnen unsere Überlegungen mit einer Charakterisierung von Kunst. Wir werden prüfen, ob ein mathematischer Beweis die Charakteristika erfüllt, die Kunst erfüllen muss. Die mathematische Tätigkeit beschränken wir auf das Verfassen von Beweisen. Dabei werden wir zeigen, dass ein Mathematiker frei über die Bestandteile verfügt, die seinen Beweis auszeichnen. Wir werden zeigen, dass ästhetische Erfahrungen mit Beweisen möglich sind. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass mathematische Beweise existieren, welche Kunst sind.
Charakterisierung von Kunst
Kunst wird vom Künstler aus Bestandteilen geschaffen und ist sinnlich wahrnehmbar. Der Künstler wählt die Bestandteile seines Werks frei aus. Unter den Bestandteilen eines Werks wollen wir den Inhalt und die Regeln, gemäß denen der Inhalt formalisiert wird, verstehen. Unter dem Inhalt verstehen wir die materiellen Komponenten eines Werks. (Zu den materiellen Komponenten eines literarischen Kunstwerks gehören z.B. die im Rahmen des Werks verwendeten Worte.) Würde der Künstler die Bestandteile nicht selbst bestimmen, so läge eine Fremdbestimmung vor und der Moment des Schaffens würde sich nicht mehr auf den Künstler beschränken. Außerdem ist die Existenz einer ästhetischen Erfahrung im Hinblick auf das Werk sicherzustellen, um von einem Kunstwerk sprechen zu können. Eine ästhetische Erfahrung tätigt der Rezipient eines Kunstwerks. Der Rezipient ist eine Person, die ein vom Menschen geschaffenes Werk sinnlich wahrnimmt und sich Gedanken über das sinnlich Wahrgenommene macht.
Eine ästhetische Erfahrung eines Rezipienten bezeichne die Erfahrung eines Übergangs, von der sinnlichen Wahrnehmung von etwas Gewöhnlichem, hin zu der sinnlichen Wahrnehmung von etwas Besonderem. Bei einer ästhetischen Erfahrung handelt es sich also um das Bewusstwerden von Besonderem. Wer würde schon annehmen, dass Kunstwerke existieren, die sich durch Gewöhnlichkeit auszeichnen? Schönheit sei ein hinreichendes Kriterium für einen solchen Übergang. Wenn etwas schön ist, dann erfährt ein Betrachter die sinnliche Wahrnehmung von etwas Besonderem. Ein Werk wäre also beispielsweise Kunst, wenn es vom Menschen geschaffen wird, schön ist und die Bestandteile des Werks vom Künstler frei bestimmt werden? Ist ein Schneider, der schöne Anzüge macht und die Bestandteile des Anzugs selbst wählt, nun ein Künstler? Ich sage er ist ein Künstler, wenn er die formalen oder materiellen Bestandteile des Anzugs auch zumindest teilweise selbst erfunden hat. Dies rundet unsere Charakterisierung von Kunst ab. Kunst muss selbstbestimmt sein, ästhetische Erfahrungen gewährleisten und eine Innovation im Hinblick auf die Form oder den Inhalt bereit halten.
Charakterisierung des mathematischen Beweises
Ein mathematischer Beweis soll das Publikum von einer mathematischen Behauptung überzeugen. Dabei gilt es eine zu zeigende Behauptung aus gegebenen Voraussetzungen abzuleiten. Die Bestandteile eines Beweises lauten: Thema, logische Regeln, Axiome, Beweisprinzipien, Konsequenzen aus Axiomen und bereits bewiesene Sätze.
T1 Mathematiker wählt die Bestandteile des Beweises selbst.
Man könnte sagen, dass der Mathematiker im Gegensatz zu einem Künstler in der Auswahl seiner Themen, welche wir als inhaltlichen Bestandteil des Werks bezeichnen wollen, eingeschränkt ist. Immerhin kann ein Künstler sich für gewöhnlich mit jedem beliebigen Thema beschäftigen. Doch ein Mathematiker ist bei der Wahl seiner Thematik (zu beweisende Behauptung) in den Grenzen der Mathematik befindlich. Der Mathematiker bewegt sich allerdings freiwillig in diesen Grenzen. Ein Beweis besteht zudem aus einer Beweismethode. Es existieren verschiedene Beweismethoden (vollständige Induktion, Widerspruchsbeweis, Beweis durch Kontraposition). Dem Mathematiker ist die Möglichkeit zur Auswahl gegeben. Auch die Logik, welche der Beweis enthält, kann vom Mathematiker gewählt werden. So kann der Mathematiker frei entscheiden, ob er mit Hilfe von klassischer Logik oder mit der Hilfe von intuitionistischer Logik einen Beweis tätigen möchte. Unter Axiomen versteht man Grundwahrheiten, von denen der Mathematiker Gebrauch macht, ohne dass er sie beweisen kann. Auch hier besteht ein Auswahlspielraum. So existieren Aussagen wie, welche der eine Mathematiker als Axiom ansieht, während sie ein anderer Mathematiker als Satz (bewiesene insbesondere beweisbare Behauptung) ansieht. Es ist zu beachten, dass Dinge existieren, welche der Mathematiker nicht als Beweismittel nutzen darf. So darf eine logisch ungültige Schlussfolgerung nicht zum formalen Bestandteil eines Beweises werden. Eine solche Einschränkung (Verzicht auf logisch ungültige Schlüsse) ist Künsten nicht zwingend zu eigen. Außerdem liegt eine eingeschränkte Wahl auf vier Kategorien an Bestandteilen vor. Man könnte vielleicht sagen, dass die Bestandteile im Rahmen einer Einschränkung auf vier Kategorien, frei gewählt werden können. Dabei liegt jeder Wahl eines materiellen Bestandteils (z.B. einer Konsequenz aus Axiomen) der formale Bestandteil der Logik zu Grunde. Anders formuliert: die Konsequenzen aus Axiomen dürfen nicht beliebig bestimmt werden, sie müssen im Zusammenspiel mit den Axiomen logisch gültig sein. Doch auch ein Dichter, der sich entschieden hat ein Sonette zu schreiben, kann nicht einfach ein japanisches Kurzgedicht verfassen und behaupten, es sei ein Sonette. Der Sonette-Schreibende obliegt per Defintionem formalen Regeln, dazu gehört auch, dass er gewisse Wörter nicht wählen darf, wenn sie die Form behindern. Doch würde man solchen Dichtern, die sich auf das Verfassen von Gedichten in Sonette-Form beschränken, sofort vorwerfen, kein Künstler sein zu können? Wir halten fest: bevor der Mathematiker den Regeln der Logik obliegt, hat er die Möglichkeit ein logisches Kalkül zu wählen, an welches er sich im Rahmen der Beweisführung hält. Aus den seit tausenden von Jahren gesammelten Sätzen (bewiesenen Behauptungen) kann der Mathematiker unter Einhaltung der logischen Gültigkeit frei wählen.
T2 Mathematische Beweise können ästhetische Erfahrungen auslösen.
Wir haben Schönheit als hinreichendes Kriterium für eine ästhetische Erfahrung postuliert. Der Begriff der Schönheit findet auch im Hinblick auf die Mathematik seine Verwendung. So gilt z.B. ein mathematischer Beweis als schön, wenn es dem Beweisenden gelingt, ein Problem auf überraschend einfache Art zu lösen. Da vielen Beweisen eine solche Schönheit zu eigen ist, können wir nun sagen, dass Mathematik zu einer ästhetischen Erfahrung gereicht? Man könnte bedenken, dass mathematische Schönheit nicht unbedingt das bezeichnen muss, was man normalerweise unter Schönheit versteht. Ob der Rezipient eine ästhetische Erfahrung sammelt, hängt nichtnur von den Bestandteilen des Werks ab, sondern auch von den geistigen Kenntnissen des Rezipienten. So wie Säuglinge keine ästhetischen Erfahrungen mit literarischen Werken machen können, existieren Menschen, die nicht in der Lage sind, mathematische Beweise als besonders zu erfahren. In beiden Fällen kann eine Ausbildung im Lesen bzw. im Beweisen unter Umständen eine Änderung herbeiführen.
T3 Mathematische Beweise enthalten im Hinblick auf ihre Bestandteile (auf formaler- oder inhaltlicher Ebene) Innovationen.
Erreicht ein Mathematiker durch das Finden eines mathematischen Satzes einen Fortschritt in der Wissenschaft, so liegt offensichtlich eine Innovation vor. Doch auch eine Behauptung die bereits bewiesen wurde, kann auf eine neue Weise bewiesen werden. So ist es z.B. möglich mit (selbst-entdeckten) Hilfssätzen einen bereits bewiesenen Satz neu zu beweisen.
Somit lässt sich sagen, dass Beweise, die eine Innovation vermitteln und die Möglichkeit zu einer ästhetischen Erfahrung bereithalten, als Kunst bezeichnet werden können. Mathematik ist Kunst, die im Rahmen von Einschränkungen frei ist. Dabei handelt es sich um kein allgemeingültiges Ergebnis. Denn gewiss sind Charakterisierungen von Kunst möglich, denen der mathematische Beweis nicht gerecht werden kann. Der Grund dafür, warum mathematische Beweise für gewöhnlich nicht als Kunstwerke angesehen werden, könnte darin liegen, dass der mathematische Beweis nicht den vorherrschenden Charakterisierungen von Kunst entspricht. Vielleicht verstehen aber auch zu wenige Menschen mathematische Beweise oder fassen sie, wenn sie sie verstehen, aus einem mangelnden Kunstverständnis heraus, nur als Wissenschaft und nicht auch als Kunst auf.